Schneerose (German Edition)
besessen hat. Er ist der große
Bruder, den sie als Mensch so dringend gebraucht hätte. Vielleicht wäre dann
vieles anders gelaufen und Orlando hätte sie nie mit offenen Pulsadern in der
dreckigsten Ecke eines elenden, verfallenen Dorfes finden müssen. Vielleicht
hätte sie ein netter Junge zum Tanzen ausgeführt, sie hätte sich in ihn
verliebt und ihm schließlich nach einem herzzerreißenden Antrag das Ja-Wort
gegeben. Sie hätten in einem kleinen Haus mit Schafen und Ziegen gelebt und
drei Kinder bekommen. Erst einen Jungen und dann zwei kleine Mädchen.
Irgendwann wäre sie alt gewesen und hätte sich gemeinsam mit ihrem geliebten
Mann einen Sonnenuntergang auf der kleinen Bank vor ihrem Haus angesehen. Stolz
und froh darüber, was sie in ihrem bescheidenen Leben erreicht hätten. Doch
dazu sollte es nie kommen. Stattdessen fand sie sich in einem Leben voll Saus
und Braus wieder, was sie anfangs genoss, doch es wird einem schnell
langweilig, wenn man erkennt, was man dafür alles aufgeben muss. Der einzige
Trost, der einem bleibt, ist das Blut, wenn es einem heiß und frisch die Kehle
hinab läuft.
Ganz in ihren Gedanken versunken, bemerkt Mary den
jungen Wachmann vom Nachbargrundstück erst, als er bereits angelockt von ihrem
hellrosa Renaissance-Kleid, auf sie zugesteuert kommt. Sie strahlt darin wie
ein Diamant auf einem dunkelblauen Samtkissen. Es ist unmöglich, sie nicht zu
bemerken. Vergessen sind Orlando und die anderen mit ihren unsinnigen Regeln,
jetzt gilt es nur noch, das eigene Verlangen zu befriedigen. Neugier liegt in dem
Blick des jungen Mannes.
„Guten Abend, junges Fräulein, gehst du zu einem
Maskenball?“, ruft er Mary freundlich zu, als er seine Füße weiter in ihre
Richtung steuert. Mary versteht seine Worte nicht, sondern hört nur das
beständige Pochen seines Pulses und sieht bereits aus meterweiter Entfernung,
wie sein Körper sich hebt und senkt von dem fleißigen Herz, welches stetig Blut
durch seinen jungen Körper pumpt. Ihre Schritte eilen ihm entgegen, wie eine
Verdurstende einer Fata Morgana in der Wüste.
Als der Mann ihre rotleuchtenden Augen entdeckt,
spürt er ein leichtes Misstrauen in sich aufsteigen. Aber er versucht, sich zu
beruhigen, indem er sich sagt, dass sie nur ein kleines Mädchen ist, welches
viel zu spät alleine unterwegs ist. Bestimmt eines der verzogenen und
verwöhnten Kinder aus der Nachbarschaft. Trotzdem beschleunigt sich sein
Herzschlag.
Mary kann nun sein Blut riechen. Es verströmt einen
Duft, der sie an Regen, der auf eine heiße Straße fällt, erinnert. Sie will
leben. Und das ist ihre einzige Möglichkeit sich für wenige Minuten lebendig zu
fühlen.
Der Wachmann erkennt erst, dass es das Beste für ihn
gewesen wäre, so weit und so schnell wie möglich davon zu laufen, als Mary ihm
mit rasender Geschwindigkeit wortwörtlich in die Arme fliegt. Die Wucht ihres
Aufpralls schmeißt ihn auf den harten Asphalt. In Panik greift er nach seiner
Waffe und hält sie drohend vor sich auf Mary gerichtet. Diese zuckt jedoch nur
unbeeindruckt mit den Schultern und ehe er überhaupt begreift, was ihm
geschieht, spürt er, wie sich ihre spitzen Zähne in die dünne Haut seines
Halses bohren. Der erste Schuss halt laut durch die Nacht und Mary lässt ihn
los. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt und der rosa Stoff ihres edlen Kleides
verfärbt sich am Bauch dunkelrot.
„Was ist denn nur los mit dir? Das wollte ich nicht.
Lass mich einen Krankenwagen rufen!“, bringt der Mann schwer atmend hervor,
während er ungläubig das Blut anstarrt. Er ist noch nicht lange Wachmann in
dieser Gegend und es ist das erste Mal, dass er sich gezwungen sah, seine Waffe
zu benutzen. Sie aber auch noch gegen ein Kind erheben zu müssen, trifft ihn
umso mehr. Doch plötzlich weicht der Schmerz aus Marys Augen und sie verzieht
ihr Gesicht zu einem schaurigen Grinsen, das dem Mann das Blut in den Adern
gefrieren lässt. Scheppernd und klirrend fällt die Munitionskugel aus Marys
Bauch auf den vereisten Asphalt. Sie ist aus Aluminium, kein Silber. Wertlos.
So klein und zierlich das Mädchen auch erscheinen
mag, besitzt sie die Kräfte eines Bären. Es gibt kein Entkommen für ihn und
sein letzter Gedanke, bevor er die Augen schließt, gilt seiner hübschen
Freundin, die in einem anderen Stadtteil mit ihrem Baby unter dem Herzen im
Bett liegt und von einer glücklichen Zukunft mit ihm träumt.
Für Mary gibt es in diesem Moment weder Zukunft noch
Vergangenheit, sondern nur
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