Schneerose (German Edition)
Verlangen. Sie kann nicht aufhören zu trinken, ihr
Durst ist unstillbar und jeder Tropfen ist wie Wasser, welches auf
glühendheißem Stein verdampft. Ihre Gier ist so groß, dass das Blut sich in
wilden Strömen auf sie und die Straße ergießt. Es spritzt einem Springbrunnen
gleich aus dem noch warmen, aber toten Körper. Mary bekommt nichts davon mit,
dass sie mitten auf der Straße im Kegel einer Straßenlaterne ihr Mahl einnimmt,
daran verschwendet sie nicht mal einen Gedanken. Sie ist nicht mehr in der
Lage zu denken, sondern kann nur noch, gesteuert von
ihrem Selbsterhaltungstrieb und ihrer Sucht, trinken, trinken und noch mal
trinken.
Wenn es nach ihr ginge, würde sie erst aufhören, bis
der Körper des Wachmannes komplett leer gesaugt wäre, nicht mal der
Sonnenaufgang könnte sie ablenken. Doch soweit kommt es erst gar nicht, denn
plötzlich legt sich eine eiskalte Hand grob auf Marys Schulter und reißt sie
mit einem Ruck von ihrem Opfer. Marys Augen glühen rot wie Feuer, als sie sich
wild strampelnd zu befreien versucht, doch es ist umsonst. Zu der einen kalten
Hand gesellt sich eine zweite und eine dritte, bis sie nur so von Armen und
Händen gefangen ist. Spitze Nägel graben sich in ihr puppengleiches zartes Kinn
und drehen ihren Kopf zur Seite, den Blick geradewegs in Augen, die einem die
Seele zu Eis gefrieren lassen könnten. Claudia. Pure Verachtung und Hass
schlagen Mary entgegen und lassen sie in ihren Fluchtversuchen inne halten.
„Du nichtsnutziges, dummes Ding. Was glaubst du
eigentlich, was du hier tust?“, zischt sie ihr einer Schlange gleich entgegen.
Vor Angst gelähmt, kann Mary sich weder rühren noch sprechen.
„Dieses Mal bist du zu weit gegangen. Dieses Mal
hast du dein eigenes Todesurteil unterschrieben!“, spricht die Schlange mit den
gelben Augen, wobei sich ein eisiges Lächeln auf ihre dunkelroten Lippen legt.
Ein Schnippen mit dem Finger genügt und zwei der fünf männlichen Wachen führen
Mary davon, während die anderen drei sich darum kümmern werden, den armen,
hilflosen Wachmann zu entsorgen, der Mary zum Opfer gefallen ist.
Auch wenn sie schon lange keinen Herzschlag mehr
besitzt, bildet sie sich ein, diesen nun bis zum Hals schlagen zu hören.
Zitternd wie Espenlaub hat sie sich in eine Ecke des großen Thronsaals verzogen
und beobachtet von dort aus angsterfüllt das Geschehen. Die beiden Wachen, die
sie herbrachten, haben sich vor ihr aufgebaut, damit sie nicht auf die Idee
kommt, zu fliehen. Doch wohin sollte sie schon gehen? Es gibt keinen Ort, an den
sie flüchten könnte. Moundrell Manor ist das einzige Zuhause, das sie hat. Was
ihr jedoch am meisten Angst macht, sind Claudias Augen, die sie unablässig
taxieren. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass sie sie auf frischer Tat
ertappt haben und jedes Mal prophezeite ihr Claudia, dass sie dafür sterben
müsse, doch jedes Mal verschonte die Königin sie aufs Neue. Aber auch das
vermag Marys Angst nun nicht zu mindern.
Als die großen, schweren Ebenholztüren auffliegen
und mit lautem Donnern gegen die schweren Steinwände schlagen, entfährt Mary
ein spitzer Schrei, bevor sie sich die blutverschmierten Hände vor den Mund
schlägt. Mit schnellem Schritt betritt die wunderschöne Königin der Vampire den
Raum. Ihr schwarzes Haar fällt in sanften Wellen über das purpurfarbene Kleid.
Die dunkle Krone auf ihrem Kopf glitzert schöner als jeder Sternenhimmel.
Augenblicklich richten sich alle Augenpaare auf sie, um sofort in Demut zu
Boden zu gleiten. Erst als Königin Chasity Platz auf dem Thron genommen hat,
erlaubt sie ihnen mit einem machtvollen Klatschen in die Hände, die Blicke
wieder zu heben.
„Seid mir gegrüßt, Kainskinder.“, sagt sie feierlich
und lässt ihre Augen durch den Raum wandern. Mit einem kurzen Nicken und einem
Lächeln auf den Lippen erweist sie ihrer treuesten Beraterin Claudia eine
besondere Ehre. Als ihr Blick zu Mary wandert, verengen sich ihre Augen zu
Schlitzen und ihre makellose Stirn wirft verärgerte Falten.
„Schon wieder!“, entfährt es ihr voller Zorn, doch
in Chasitys Augen sieht Mary etwas, was ihr Hoffnung gibt: Enttäuschung. Denn
anders als bei Claudia strahlt der Blick der Königin Wärme und Güte aus, welche
im Moment jedoch hinter einem Schleier der Strenge verborgen werden.
„Wie konnte das passieren? Wer hatte Wachdienst?“,
fordert Chasity zu erfahren und wendet ihren Blick von Mary an einen der
Wachmänner, der direkt an Claudias Seite
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