Schneerose (German Edition)
ansteckendes Lachen. „Das ist die
richtige Einstellung. Lass dir von den anderen bloß nicht den Spaß verderben.“
Ein Zwinkern huscht über ihre braunen Augen, bevor der Startpfiff ertönt.
Tatsächlich legt Tru ein enormes Tempo an den Tag, sie ist um Einiges schneller
als alle anderen aus der Klasse. Es kostet Lia viel Mühe und Anstrengung, mit
ihr mithalten zu können, doch letztendlich schafft sie es. Und so ziehen sie
gemeinsam eine Bahn nach der anderen. So schnell, dass der Lehrer die beiden
Jungen, die sich mit ihnen die Bahn teilen sollten, auffordert, sich auf zwei
der anderen Bahnen aufzuteilen. Er ist beeindruckt von Lias Talent, was sie
bisher immer verheimlicht hat, nur um ja nicht aufzufallen. Sie besitzt zwar
bei Weitem nicht die Ausdauer und die Geschwindigkeit von Tru, aber sie spielen
eindeutig in derselben Liga. Nur, dass Tru mehr Übung hat.
Als die beiden Stunden vorbei sind, die sich sonst
zäh wie Honig für Lia dahin ziehen, kann sie es gar nicht glauben. Die Zeit
erschien ihr wie wenige Minuten. Doch so schnell sie im Becken auch geschwommen
ist, umso mehr trödelt sie nun damit, das Becken zu verlassen. Sich die Duschen
mit den anderen Mädchen teilen zu müssen, ist ihr ein Graus. Zumal sie sich
nicht immer auf die Hilfe von Tru verlassen kann. Verloren blickt sie zu ihr
empor, als diese aus dem Becken steigt, und reißt geschockt die Augen auf. Trus
kompletter Rücken ist mit alten Narben überseht. Lauter Striemen, fast wie das
Karomuster eines Schottenrocks. Obwohl sie jetzt schon seit ein paar Monaten in
derselben Klasse sind, ist es Lia noch nie aufgefallen. Tru scheint ihren Blick
zu bemerken und schmeißt schnell ihr langes Haar über ihren Rücken, bevor sie
in die Duschen davoneilt und Lia einen verärgerten Blick zuwirft.
„Was ist los, Liandra? Wollen Sie das Wasser nicht
verlassen?“, erkundigt sich ihr Lehrer, als er beginnt, die Abgrenzungen der
Bahnen einzurollen.
„Wäre es vielleicht möglich, dass ich noch ein
bisschen länger bleibe? Ich würde gerne noch etwas trainieren, damit ich Tru
beim nächsten Mal schlagen kann.“
Der Lehrer lacht. „Bleiben Sie ruhig noch etwas. Aber mir
würde es schon reichen, wenn Sie beim nächsten Mal überhaupt auftauchen würden.
Sie scheinen ja ein echtes Naturtalent zu sein.“
Als Lia schließlich das Wasser verlässt, knurrt ihr
Magen und ihre Beine zittern vor Anstrengung. Das heiße Wasser unter der Dusche
über den Körper laufen zu lassen, wirkt befreiend. Für heute hat sie den Tag
überstanden und es war gar nicht mal so schlimm, wie sie dachte. Dank Tru. Sie
ist nett und hilfsbereit und doch unnahbar. Im Grunde weiß sie nichts über sie,
außer, dass sie wahrscheinlich denselben rockigen Musikgeschmack teilen. Auch
Tru ist eine Außenseiterin und Einzelgängerin, doch niemand würde es wagen, ihr
zu nahe zu treten. Es kursieren die wildesten Gerüchte über sie. Einige
behaupten, sie wäre in einer Motorradgang und sei eine Schlägerbraut. Andere
sagen, sie sei schon mal im Knast gewesen. Und wieder andere erzählen, sie
deale mit Drogen. Lia glaubt nichts davon, auch wenn die vielen Narben auf
ihrem Rücken sie ängstigen. Es müssen schreckliche Schmerzen gewesen sein.
Wie bereits den ganzen Tag über schwenken ihre
Gedanken zurück zu dem Fremden. Wenn sie doch nur seinen Namen wüsste oder
irgendetwas über ihn, was ihr verraten würde, was für ein Mensch er ist.
Vielleicht ist er ja ein totaler Idiot, so wie Bradley. Doch das kann sich Lia
einfach nicht vorstellen. Sie hofft, dass sie so etwas einfach spüren würde. Er
ist anders als alle Jungen, die sie bisher kennen gelernt hat. Sie kann nur
nicht genau sagen, in welcher Hinsicht anders.
Der nächste Schock lässt jedoch nicht lange auf sich warten.
Als sie in die Sammelumkleiden zurückkehrt, sieht sie bereits, dass alle Spinde
weit offen stehen, einschließlich dem, in den sie ihre Kleider gesteckt hat. Er
ist leer. Natürlich. Verzweifelt wandert Lias Blick zum Mülleimer. Es wäre nichts
Neues, wenn die Mädchen etwas von ihr dort hinein geworfen hätten. Zu ihrem
Glück oder auch Pech, wie man es nimmt, findet sie darin ihren dunkelblauen
Rucksack, dessen Inhalt sie ausgeleert neben Bananenschalen und benutzten
Tampons aus dem Müll fischen kann. Wenn es das erste Mal wäre, müsste sie sich
wahrscheinlich übergeben, doch so beeilt sie sich nur mit vor Ekel verzerrtem
Gesicht, ihre Sachen zurück zu bekommen. Ihre Schuluniform bleibt
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