Schneerose (German Edition)
jedoch
verschwunden, so lange und gründlich sie auch danach sucht. Tränen schießen ihr
in die Augen, die sie krampfhaft zu unterdrücken versucht. Warum kann sie nicht
einfach sein wie alle anderen? Warum kann sie sich nicht anpassen? Es würde
alles so viel leichter machen.
Mittlerweile ist ihre Haut von alleine getrocknet, aber ihr
Badetuch hätte sie trotzdem gerne, um sich wenigstens etwas vor dem eisigen
Wind und den Blicken Fremder schützen zu können. Zum Glück schneit es gerade
nicht, trotzdem ist sie sich sicher, dass sie sich bei den Minusgraden nur im
Bikini und mit nassen Haaren mehr als nur eine Erkältung holen wird. Auch, wenn
sie sich noch so unwohl dabei fühlt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als nur
mit dem Rucksack und ihren Badesachen das Schwimmbad zu verlassen. Da das
Schwimmbad montags speziell für ihren Schwimmunterricht öffnet, kann sie auch
nicht auf die Hilfe von anderen Badegästen oder dem Personal hoffen. Der
einzige Mensch, der außer ihr wahrscheinlich noch hier ist, ist der Wachmann,
der die Aufnahmen der Sicherheitskameras im Blick behält und jetzt Dank ihr
sicher etwas zu lachen hat.
Deprimiert tritt Lia aus dem Gebäude. Montag ist der einzige
Tag in der Woche, an dem sie nicht mit dem Auto zur Schule fährt, eben wegen
dem verdammten Schwimmunterricht. So muss sie sich jetzt nicht nur die Schmach
eines zehnminütigen Fußweges, vorbei an einer Hauptverkehrsstraße, zur nächsten
Bushaltestelle geben, sondern auch noch eine fast halbstündige Fahrt mit einem
vollbesetzten Bus zu ihr nach Hause. Zudem ist sie sich sicher, dass Tracy und
die anderen sich hier irgendwo noch herumtreiben, um ihre Tat noch besser
genießen zu können. Der Wind weht ihr bereits kalt um ihre nackte Haut, sodass
sich sämtliche Härchen ihres Körpers schützend aufstellen. Ihre Zähne beginnen
bereits vor Kälte zu klappern. So oder so bleibt ihr nichts anderes übrig, denn
es gibt niemanden, den sie anrufen und um Hilfe bitten könnte. Ihr Vater hat
für solche Kindereien keine Zeit, Mike besitzt kein Auto und bei Lindsay traut
sie sich zur Zeit nicht anzurufen. Seit Langem hat sie sich nicht mehr so
alleine gefühlt. Der dicke Kloß in ihrem Hals droht zu platzen, aber mitten in
der Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen, wäre eindeutig zu viel.
Die ersten Autofahrer beginnen bereits zu hupen, als sie Lia
in ihrem spärlichen Outfit am Straßenrand wie eine Bordsteinschwalbe stehen
sehen. Tapfer beißt sie die Zähne zusammen und läuft stur geradeaus, während
sie tapfer die Tränen runterschluckt. Sie spürt von überall her Blicke in ihrem
Rücken wie Messerspitzen. Ein Kichern hier und Schritte dort lassen sie
zusammenschrumpfen wie eine Maus. Ach, wäre sie doch nur eine Maus und könnte
sich in irgendeinem Loch verkriechen und am Besten nie wieder rauskommen.
Doch plötzlich hört sie das langsame Surren eines Motorrads
direkt neben sich. Bedenklich nah kommt ihr die Maschine, bevor sie schließlich
auch noch direkt vor ihr zum Stehen kommt. ‚Oh nein, nicht auch das noch’ ,
denkt sich Lia ängstlich. Sie will bereits an dem Fahrer vorbeisteuern, ohne
ihn weiter zu beachten, als sie seine, beziehungsweise ihre Stimme hört.
„Lia, komm, ich nehme dich mit.“
Erstaunt fährt Lia zu der Person herum. Mittlerweile hat sie
das Visier ihres Helmes hochgeklappt, sodass Lia die warmen Augen von Tru
erkennt. Wieder mal ist sie ihre strahlende Retterin in der Not. Dass sie
Motorrad fährt, passt wie die Faust aufs Auge. Tru steigt von ihrer schwarzen
Honda, zieht ihren Ledermantel, den sie verbotenerweise immer über ihrer
langweiligen Schuluniform trägt, aus und reicht ihn Lia, ohne irgendwelche
unangenehmen Fragen zu stellen. „Zieh den an, damit du nicht frierst.“
Dankbar schlüpft Lia in das seidene rote Innenfutter des
Mantels, welches noch warm von Trus Körper ist und nach ihr riecht. Es ist der
würzige Duft des Herbstes von Kastanien, gemischt mit Tannennadeln und buntem
Laub. Wunderschön und stark zugleich, so wie Tru. Als sie ihre Hände um Trus
Taille schließt, startet diese bereits den Motor ihrer Rennmaschine und wenige
Sekunden später geht es auch schon los. In rasantem Tempo sausen sie vorbei an
den Autos in Richtung Sonnenuntergang. Lia möchte vor Freude laut los schreien,
nie zuvor hat sie sich so frei und unbeschwert gefühlt. Vielleicht sollte sie
sich auch ein Motorrad kaufen, wenn sie sich damit dann immer so fühlen würde.
Als Tru merkt, dass
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