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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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stellt. Und irgendwann wird ihm so langweilig, dass er zum Kamin geht. Roland Colbert will gerade seine nächste Frage stellen, als er sieht, wie Ohayon sich in den zweiten Sessel setzt und Madame Darlan ansieht. Er schweigt also.
    Ohayon wartet, bis Madame Darlan ihn ansieht. Sie kann irgendwann gar nicht anders. Der kleine dicke Mann ihr gegenüber ist so träge, dass sie irgendwas tun muss. Ohayon erwidert den Blick nicht, er schaut jetzt auf den Boden, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet. Madame Darlan sieht, dass Ohayon etwas fragen will, und es kostet sie einiges an Selbstbeherrschung, diesen energielosen Menschen zu ertragen. Es dauert noch eine Weile, bis Ohayon anfängt. Und selbst als er spricht, sieht er sie nicht an. Madame Darlan kann den kleinen Dicken nicht einschätzen. Ist er einfach nur unglaublich dumm? Ist er schüchtern? Jedenfalls redet er so langsam, als hätte erSchwierigkeiten, überhaupt ganze Sätze zu formulieren. Und vor jedem neuen Satz entsteht eine Pause.
    »Wissen Sie, Madame … Die meisten Leute, zu denen wir kommen, haben das Gefühl, dass wir sie reinlegen wollen. Das ist ganz oft so. Und ich wundere mich auch nicht darüber. Wer hat schon gerne mit der Polizei zu tun?«
    Ohayon hört auf zu sprechen und fängt auch nicht wieder an. Schließlich hält Madame Darlan es nicht länger aus. Sie hat das dringende Bedürfnis, die Konversation irgendwie zu beschleunigen.
    »Ich habe keine Angst vor der Polizei!«
    Wieder entsteht eine Pause.
    »Ich habe mit Genevièves Mutter gesprochen. Und ich glaube, sie war froh, dass ich bei ihr war. Obwohl ich von der Polizei bin. … Und als ich ging, da sagte sie etwas. Wollen Sie wissen, was sie sagte?«
    »Was sagte sie?«
    »›Ihr müsst mir versprechen, dass ihr herausfindet, wer es war.‹ Können Sie sich das vorstellen?«
    »Was?«
    »Was das für ein Gefühl ist. … Wenn einem die Mutter von einem toten Mädchen so was sagt?«
    Madame Darlan ist irritiert, reagiert abweisend.
    »Natürlich kann ich mir das vorstellen. Meinen Sie, ich bin aus Stein?«
    Er antwortet nicht.
    »Was soll das? Was sind das für Reden?«
    »Na ja, ich … wir … der Kommissar und ich, wir haben das Gefühl, dass Sie sich vieles nicht vorstellen können.«
    »Ach ja? Sie wissen, was ich kann und was ich nicht kann?«
    »Ja, Madame, das weiß ich.« Jetzt erst blickt Ohayon sie an. »Ich sehe es so deutlich, als hätten Sie es sich auf die Stirn geschrieben.«
    Die Aussage überrascht Madame, durchbricht die Mauer. Durchbricht sie auf eine Weise, die die ehemalige Lehrerin zu einem ganz kleinen, unwillkürlichen Lächeln veranlasst.Sie hatte den kleinen dicken Mann für einen dummen Schergen des Kommissars gehalten. Offenbar musste jemand dabei sein, und dafür war er gut genug. Der stille Dummkopf, der an der Wand lehnt. Jetzt ist sie überrascht. Es kommt ihr vor, als würde etwas in ihr aufwachen. Dieses Gefühl ist so unmittelbar, dass sie den Kopf schüttelt. Vielleicht tut sie das, um ganz wach zu werden.
    »Sie haben auf dem Gymnasium unterrichtet, nicht wahr?«
    »Was hat das mit dieser Sache zu tun?«
    »Ich war dort. Zusammen mit Sergeant Conrey. Wir haben uns nicht wohlgefühlt.«
    »Und jetzt haben Sie eine Abneigung gegen mich? Darf ich das so verstehen?«
    »Nein … Ich habe mich nicht gut ausgedrückt, wir … Sergeant Conrey und ich, wir hatten beide große Schwierigkeiten mit dem Gymnasium. Wir haben hinterher darüber gesprochen, es … Es hat bei uns eigentlich nicht gereicht. Mit der Intelligenz, verstehen sie? An manchen Dingen kann man nichts drehen. An der Intelligenz kann man nichts drehen.«
    Madame Darlan beginnt wieder, sich unwohl zu fühlen. Etwas will sich aus ihr befreien. Aber warum löst gerade dieser Dummkopf mit seinem Geschwätz das bei ihr aus?
    »Conrey hat mit den Lehrern gesprochen, und die meinten, Geneviève war nicht gut. Also, Mathematik und Physik. Da war sie wohl nicht so gut. In Chemie auch nicht. Meine Mutter fand das damals nicht schlimm, dass ich immer so schlecht war. Ich weiß nicht, wie Genevièves Mutter das gesehen hat … Sie macht sauber. Putzfrau. Ist bei der Stadt angestellt. Genau wie meine Mutter damals. Damals habe ich deshalb mein Abitur gekriegt. Obwohl es eigentlich nicht gereicht hat. Nur weil meine Mutter Putzfrau war. Die Sozialisten … Sie wissen ja, wie das war. Na ja, und als ich ihr sagen musste, dass Geneviève totgeschlagen wurde … Und weil sie eben Putzfrau

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