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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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Monsieur Joiet schnell zum Kern, von dem aus der große Philosoph leuchtete: »Schopenhauer hat es wie kaum ein anderer geschafft, seine Menschenverachtung, seinen charakteristischen tiefen Pessimismus produktiv zu machen …« Während Juliet weiterlas, machte sich ein Juckreiz in ihren Oberarmen breit, sie kreuzte also ihre Arme und begann sich die Haut zu reiben. »Das menschliche Dasein ist durch eine Vielzahl von Bedürfnissen belastet, die nie befriedigt werden können. Alles eben noch Befriedigte treibt sofort neue Begehrlichkeiten aus sich hervor, und am Ende vermag doch nichts den bodenlosen Abgrund des menschlichen Herzens auszufüllen …« Der Juckreiz weitete sich auf die Oberschenkel aus. »… ist der Mensch endlich dieses sinnlosen Spiels, sich Befriedigung zu verschaffen, überdrüssig, verfällt er in unermessliche Langeweile. Der Lebenslauf des Menschen ist nichts, als dass er von der Hoffnung genarrt dem Tode in die Arme tanzt. Jeder läuft zuletzt schiffbrüchig und entmastet in diesen Hafen ein …« Dann hatte sie den Eindruck, ihre Mandeln würden anschwellen. »Ungerechtigkeit, Härte, Grausamkeit, das ist die Handlungsweise der Menschen gegeneinander. Die Wilden fressen einander, die Zahmen betrügen sich. Optimismus ist nicht bloß eine absurde, sondern auch eine wahrhaft ruchlose Denkungsart, ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit.« Sie hörte ein Pfeifen und … Peng! Ja, sie war wütend, rot und maßlos entschlossen.

    Oh ja! Roland Colbert schwellen die Adern am Hals! Er meint außerdem ein feines Pfeifen zu hören.
    Er hält sie nicht mehr aus, Madame Darlan und ihre arrogante Art, Vorgänge ironisch oder indirekt zu beschreiben. Es ist eine Art Panzer, den sie sich da zugelegt hat. Er wird ihn durchbrechen und ihre Nase auf den Boden der Tatsachen drücken.
    »Ja, ich frage Sie noch mal, Madame Darlan! Ich werde Sie so oft fragen, bis ich nicht mehr den Eindruck habe, dass Sie mir etwas verschweigen. Sie stehen offenbar öfter am Fenster. Sie sagten bei meiner ersten Befragung, dass Sie wach waren, Sie haben heute Abend eine Person gesehen, die wesentlich weiter entfernt war als die Stelle, an der Geneviève lag.«
    »Und ich habe sofort die Polizei angerufen. Genau wie Samstagmorgen. Was glauben Sie denn, was ich verschweige?«
    »Das müssen Sie mir sagen.«
    Madame Darlan sitzt wieder in ihrem Sessel am Kamin. Roland Colbert steht am hinteren Fenster. Er sieht zum Schuppen hinüber. Der überdachte, vordere Teil ist schwer zu erkennen.
    Ohayon steht vor einem Bücherregal. Er weiß, warum der Kommissar ihn mitgenommen hat. Sechs Augen und sechs Ohren. Und Ohayon merkt, dass er wieder anfängt, sich zu schämen. Nur deshalb bin ich hier … Sergeant Ohayon presst die Lippen aufeinander. Conrey sagt manchmal: Du kannst so schön mit Gefühl! Und genau dafür setzen sie ihn ein. Für alles, was mit Gefühl zu tun hat. Und genau das will Ohayon nicht. Wenn er seine Gedanken so laufen lässt, wie sie wollen, sieht er sich als diesen Kommissar aus der amerikanischen Krimiserie. Er hat das Roland Colbert mal gestanden und der hat gesagt: Die siebziger Jahre sind aber schon eine Weile vorbei! Trotzdem. Ohayon träumt davon, wie dieser Kommissar zu sein. Schnell, schlagfertig, attraktiv. Das Auto immerhin hat er sich geleistet. Seinen Achtzylinder. Aber da sindkeine schönen Frauen um ihn herum. Und er hat noch nie mit messerscharfen Schlussfolgerungen geglänzt. Stattdessen haben sie ihn abgestempelt: … so schön mit Gefühl! Ohayon weiß, wie Conrey das meint. Er nimmt ihn so wenig ernst wie die anderen. Trotzdem ist heute etwas anders als sonst. Seit dem Gespräch mit Kristina sind ganz neue Gedanken in seinem Kopf. Er hat sich eine Stunde lang mit einer Sechzehnjährigen unterhalten, ohne sich oder sie von außen zu sehen. Ohne sich besonders zu verhalten. Und sie hat ihn ernst genommen. Ohayon fragt sich seitdem, warum er das nicht früher begriffen hat. Dass Frauen vielleicht gar nicht wollen, dass er besonders ist. Und dann diese plötzliche Vorstellung, er könnte eines Tages selbst Kinder haben. Aber das kam wahrscheinlich nur daher, dass er Kristina beschützen wollte. Ihr helfen bei ihrem Schmerz. Es ist viel passiert. Bei Ohayon. Seit gestern Abend. Und so steht er also mit gemischten Gefühlen vor dem Bücherregal.
    Dann sind die schönen neuen Gedanken plötzlich weg, und er beginnt sich zu langweilen, während der Kommissar seine präzisen Fragen

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