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Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern

Titel: Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Wittekindt
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abgemurkst, aber nicht seinen Jünger. Hasste sie Monsieur Joiet denn überhaupt? Ging von ihm und seinen Vorschlägen nicht eigentlich etwas aus, das sie faszinierte? Juliet bestellte noch ein Bier und las Monsieur Joiets Zitatensammlung zum dritten Mal. Keine Frage, der Text hatte was. Die Welt von Arthur Schopenhauer war, wenigstens in Monsieur Joiets Verdichtung, ein Rausch.
    Und das für Vierzehnjährige? Vor allem dieses Gipfelzitat, mit dem Monsieur Joiets Einleitung abschloss: »Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.« Nicht wirklich geeignet für Schüler. Außerdem schien dieses ganze Wollen letztlich vom Geschlechtstrieb auszugehen. Der Mensch sollte nichts anderes sein als konkretisierter Geschlechtstrieb?
    So reduziert ist die Welt nicht!
    Und was viel wichtiger war als aller Geschlechtstrieb: Sie war nicht reduziert auf Mutterschaft, sie konnte endlich aufhören zu grübeln!
    Beruhigt sah sie also nach draußen, genoss die Abenddämmerung und deutete die kleinen schwarzen Wolken vor dem Rot als Enten, Schäfchen und kleinen Firlefanz. Die Schleuse pumpte schon wieder ein Schiff nach oben. Ein kleiner Mast erschien. Wieder mit einigen Wimpeln. So viel Aufwand nur wegen eines Segelboots. Aber da täuschte sie sich. Diesmal war es ein Schleppkahn. Braun, schwarz und so groß, dass er kaum ins Becken passte.

Fünfter Tag – Mittwoch
    Er weiß, dass er es geschafft hat. Er ist wieder ausbalanciert. Mehr noch! Er ist geradezu beschwingt, sieht in allem Licht.
    Das Beste ist die Tatsache, dass sein Verstand wieder funktioniert. Er hat etwas Furchtbares getan, aber er weiß auch, wo genau er seinen Fehler gemacht hat. Ich bin ausgestiegen. So etwas darf nie wieder geschehen. Ein Vorhaben, das ihm nur in Freiheit gelingen würde. Er muss also frei sein.
    Das ist das Ergebnis seines Nachdenkens von gestern Abend. Da hatte er in Saarbrücken ganz ruhig auf dem breiten Hotelbett gelegen und sich genau zurechtgelegt, was er sagen würde: Ich war in Saarbrücken und bin vom Schnee aufgehalten worden!
    Mit diesem Satz würde nicht nur seine Verteidigungsrede beginnen, sondern auch sein Kampf gegen den eigenen Trieb. Ich war in Saarbrücken und bin vom Schnee aufgehalten worden!
    Er hatte den Satz ein paar Mal halblaut vor sich hin gesagt. Klarheit war dringend nötig.
    Danach hatte er seine Frau angerufen. Sie fand es vernünftig, dass er über Nacht in Saarbrücken blieb. Zum Glück waren die wichtigsten Straßen am nächsten Morgen geräumt. Die Verbindung nach Fleurville war sicher noch nicht frei. Aber das war egal. Er war am Morgen direkt von Saarbrücken aus zu seiner Schule in Benningstedt gefahren.
    Als er auf dem Weg zum Schulgebäude von ein paar Schülerinnen gegrüßt wird, fällt ihm auf, dass er seit gestern Abend nicht mehr an Mädchen gedacht hat. Etwas ist mitihm passiert. Etwas Wunderbares. Gibt es so was? Dass ein dunkler Zwang, der einen jahrelang quält, plötzlich verschwindet? Im Moment fühlt er sich jedenfalls wie ein ganz normaler Mann, der zur Arbeit geht. Vor dem Lehrerzimmer wird er von einer Kollegin angesprochen, die wissen will, ob seine Schüler über die Anwesenheit der Polizei gestern reden.
    »Weiß ich noch nicht. Ich habe heute erst um zwölf Uhr Unterricht.«
    Danach macht er eine Bemerkung über die Polizei, und seine Kollegin lacht. Nachdem er im Lehrerzimmer verschwunden ist, fällt ihr auf, dass sie noch nie über eine seiner Bemerkungen gelacht hat.
    Im Lehrerzimmer hält der Direktor der Schule eine kleine Ansprache und erteilt die Anweisung, dass man mit den Schülern offen über das tote Mädchen aus Frankreich reden soll.
    »Es muss Raum dafür sein, dass unsere Schüler darüber sprechen können. Das Pensum ist im Moment nicht so wichtig. Die französische Polizei hat uns nicht gesagt, ob das Mädchen vergewaltigt wurde, aber ihr könnt davon ausgehen, dass die Schüler und vor allem die Schülerinnen so etwas denken. Es ist wichtig, dass die jungen Menschen merken, dass wir in dieser Situation auf ihrer Seite sind. Es ist nicht nur wichtig, es ist eine Selbstverständlichkeit.«
    Der Direktor lässt sich länger darüber aus, wie brutal diese Tat gegen ein junges Mädchen ist. Zwei Lehrerinnen sehen aus, als würden sie gleich weinen. Es entsteht das Gefühl einer Gemeinschaft. Der Mann fühlt, dass er zu dieser Gemeinschaft gehört. Es fällt ihm schwer, sich zurückzuhalten. Er möchte unbedingt etwas sagen. Zum Ausdruck

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