Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
bringen, dass er dazugehört. Nachdem der Direktor die Sitzung beendet hat, macht er sich auf den Weg in seine Klasse. Der Gang ist so trist wie all die Jahre zuvor. Ihm kommt es so vor, als würde die Sonne scheinen.
Nach einundfünfzig Bahnen ist sie entschlossen. Es ist Unsinn, die Last länger zu tragen. Ihre Haut hält diesen Wahnsinn im Wasser nicht mehr aus. Sie telefoniert kurz und zieht sich dann an. Der Entschluss hat sie beruhigt. Warum hat sie überhaupt so lange gezögert? Sie wird dem Pfarrer alles beichten, dann liegt es an ihm. Sie überlegt, ob sie das Auto nehmen soll, entschließt sich aber, zu Fuß zu gehen. Fünfzehn Minuten ist sie unterwegs. Sie geht noch immer nach Frankreich zum Beten. Und zum Beichten. Sie kennt den Pfarrer, seit sie ein Kind war.
War sie da auch schon so? Das mit dem Schwimmen hat erst angefangen, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte. Aber das Religiöse. Ihr Zwang, sich schuldig zu fühlen. Lag das am Pfarrer? Rannte sie am Ende zu dem, der sie überhaupt erst krank gemacht hatte? Nein, an ihm liegt es nicht. Es ist ihr Problem, nicht das des Pfarrers. Warum sie sich an allem, was im Ort Schlimmes passiert, schuldig fühlt, weiß sie nicht. Aber sie weiß, dass es diesmal anders ist. Diesmal ist etwas passiert. Sie weiß, dass sie ihre Tochter schützen muss. Das ist ihr Mutterinstinkt. Trotzdem zieht sich ihre Tochter immer mehr zurück. Gerade jetzt! Sie hat versucht, mit ihr zu reden. Aber es hat nicht geklappt. Der Einzige, der mit jemandem reden kann, der schuldig geworden ist, ist nun mal der Pfarrer.
Der Schnee auf den Wegen fängt bereits an zu tauen. Als sie den Turm der Kirche sieht, weiß sie, dass ihr Entschluss richtig war. Je näher sie kommt, desto weniger versteht sie, warum sie überhaupt so lange gezögert hat. Der Pfarrer war sofort bereit, sich mit ihr zu treffen. Natürlich weiß er längst, was los ist. Er hat ja von dem Mord an Geneviève in der Zeitung gelesen. Und mich nicht verraten! In einer Stunde hat sie es hinter sich.
»Es wäre schön gewesen, wenn Sie sich angemeldet hätten, aber … Kommen Sie rein.«
»Wir werden Sie nicht lange stören.«
Der Pfarrer führt Roland Colbert und Ohayon in sein Wohnzimmer. Ohayon sieht sich kurz um, holt sein Notizbuch heraus. Der Pfarrer ist gut gelaunt. »Muss ich mit einem Verhör rechnen?«
»Wir haben nur ein paar Fragen, wir …«
»Sie sind wegen Geneviève hier. Das ist eine traurige Geschichte. Aber ich kann gar nicht so viel über sie sagen, denn … Sie ist in letzter Zeit nicht mehr in die Kirche gekommen. Leider.«
»Deshalb sind wir nicht hier.«
»Sie wollen mal nachfragen, ob jemand während der Beichte die Tat gestanden hat?«
»Hat jemand gebeichtet?«
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee?«
»Kaffee.«
Der Pfarrer geht in die Küche und kehrt nach einer Weile mit dem Kaffee zurück. Die Stimmung des Pfarrers ist immer noch ausgesprochen heiter. Verbindlich. Vertrauen erweckend.
»Ich hoffe, er ist noch warm. Meine Haushälterin macht ihn immer als Erstes. Morgens. Davon ist sie nicht abzubringen … Ich habe eben in der Küche überlegt. Gebeichtet hat keiner den Mord, das darf ich Ihnen sagen und … ich habe überlegt, wie ich Genevièves Tod überhaupt aufnehmen soll, Sie … Sie werden das vielleicht nicht verstehen, aber … es gibt eine Gerechtigkeit in allem. Es gibt Gründe für alles.«
»Für den Tod einer Schülerin? Es gibt Gründe dafür, Mädchen zu erschlagen?«, möchte Ohayon wissen. Der Pfarrer bleibt unbewegt. Er nimmt eine kleine silberne Zange und tut zwei Stück Würfelzucker in seinen Kaffee. Danach rührt er um. Endlich spricht er.
»Wenn ein junges Mädchen stirbt, dann ist man erst mal entsetzt. Natürlich.« Der Pfarrer entscheidet sich für ein weiteres Stück Würfelzucker. »Aber wenn man, so wie ich, davon ausgeht, dass es für alles einen höheren Grund gibt, dass jede Strafe gerecht ist …«
»Dann geht einem alles am Arsch vorbei.«
»Es ist gut, Ohayon. Wir wollen nicht auf dieser Ebene einsteigen.«
Der Pfarrer lächelt. »Religiöse Fragen interessieren Sie offenbar nicht.«
»Nicht unter diesen Umständen.«
»Gut. Sie sind Polizisten, und Sie wollten wissen, ob sich jemand anders als sonst verhalten hat.«
»Hat jemand sich anders verhalten?«
»Nein. Nein, mir ist nichts aufgefallen. Absolut nichts. Und ich bin froh darüber. Der Gedanke, dass mir jemand so eine Tat gestehen würde, und dann kämen Sie
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