Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
passieren wird. Vielleicht ist sie nicht gut genug dafür, dass mit ihr etwas Besonderes passiert. Oder sie wünscht es sich zu doll. Das hat sie nämlich herausgefunden. Wenn sie ein Bild malt, ist es immer gefährlich,wenn sie etwas Besonderes will. Die besonderen Sachen passieren einfach so. Mittendrin. Woher das wohl kommt? Dass sie manchmal etwas malt, das besser ist als anderes? Und so hat sie Philippe und die Tatsache, dass sich am Waldrand etwas bewegt hat, schon wieder vergessen und fragt sich stattdessen, wie man wohl einen silbernen Mond malen könnte, ohne Silber zu nehmen, und dann fragt sie sich, ob Silber überhaupt eine Farbe ist, und dann, ob Kupfer und Gold Farben sind, und dann knackt hinter ihr ein Zweig, und Geneviève dreht sich um, und ein Gefühl unbändigen Glücks durchfährt sie.
Damit hatte er nicht gerechnet. Schlaglöcher! Sein Wagen hat sich festgefahren. Er traut sich nicht, zu viel Lärm zu machen. Er überlegt, ob er abbrechen und zurückfahren soll. Er vergisst die Zeit. Schließlich macht er noch einen Versuch. Schwung – und zurück. Schwung – und zurück. Er schafft es, den Wagen freizubekommen. Er fährt noch dreihundert Meter durch den Wald. Der Waldweg endet vor einer Stange. Er wusste, dass der Weg hier endet. Er kennt sich aus. Bis zur Lichtung ist es nicht weit, aber er muss das letzte Stück gehen. Von hier aus wird er nichts sehen.
Der Mann steigt aus.
Reglos am Rand der Lichtung. Er stiert zum Hexenhaus hinüber. Er scannt die Lichtung ab. Wo ist sie? Drüben der Waldrand liegt im Schatten. Schatten des Mondlichts. Ist sie da im Schatten? Sie müsste doch längst hier sein. Oder ist sie ins Haus gegangen? Hat sie sich bei der Hexe verkrochen? Nein! Die haben doch alle Angst vor der Hexe. Oder stimmt was nicht mit der Zeit? Hat er zu lange gewartet? Der Zwischenfall im Wald. Er sieht auf die Uhr. Schon zwanzig vor drei! Die Aufregung. Er hat sich verschätzt. Du hast dir viel zu viel Zeit gelassen! Zu viele Träume! Er wartet trotzdem noch eine Weile. Er steht da und guckt hoch zum Dach des Hexenhauses. Ist da was auf dem Dach? Der Mann tritt ein Stück vor. Auf die Lichtung. Leichtsinn! Er sieht nichts. Dasist auch egal. Der Mann ist nicht mehr interessiert an Beobachtungen. Er wartet. Es hat inzwischen angefangen zu schneien. Er fängt an zu frieren. Er wird ungeduldig. Er wird sogar wütend. Auf sie. Die ihn warten lässt. Auf sich selbst. Dann will er es wissen. Eine starke Kraft. Er gibt die Deckung endgültig auf. Hoffentlich schläft die Hexe! Na ja, kein Licht. Die schläft. Er geht auf das Haus zu. Vielleicht ist die Kleine auf der anderen Seite. Ihm ist nämlich eingefallen, dass dort ein Schuppen steht. Der Schuppen! Der Gedanke an den Schuppen. Es wäre nur logisch, wenn sie dort wäre. Schutz sucht. Als er das Haus umrundet hat und den Schuppen sieht, geschieht etwas mit ihm, das so stark ist, dass er sich völlig darin verliert. Dieses Zusammenziehen der ganzen Existenz zum Sexuellen, die unendliche Befreiung, das plötzliche Niederbrechen aller selbst auferlegten Tabus ist so berauschend, so mächtig und lebenskräftig, dass sich der Verstand ausschaltet.
Er will töten.
Es ist ein Rausch. Er verliert den Sinn für das, was wirklich ist und was nicht.
Es vergeht Zeit. Er wird nie sagen können, wie viel Zeit verging. Aber es ist Zeit vergangen. Während er ununterbrochen die Tat begeht, die er begehen muss.
Plötzlich ist er wieder in der Welt. Er sieht sie. Im Schnee. Blut.
Blut, mit dem er auf einmal nichts mehr zu tun haben will. Er lehnt das Blut ab. Ja, er lehnt das Blut kategorisch ab! Er lehnt auch das tote Mädchen ab. Er meint, dass hier etwas mit Ursache und Wirkung nicht stimmt. Das, was er sieht, kann und darf nicht stimmen.
Er wird für kurze Zeit verrückt. Wirklich verrückt.
Nicht nur in dem Sinne, dass er die Kontrolle verliert. Die Ausschaltung des Verstandes ist so gründlich, dass er später Lücken haben wird, regelrechte Gedächtnislücken. Er wird sich nie vollständig daran erinnern können, was genau passiert ist.
Erster Tag der Ermittlungen – Samstag
Sergeant Ohayon sitzt noch immer in seinem Sessel und schläft. Resnais muss ihn also erst wecken, und Ohayon braucht etwas, bis er begreift, worum es geht.
»Eine Madame Darlan! Jetzt wach schon auf! Madame Darlan! Hey! Die hat angerufen! Gerade eben.«
»Scheiße, wie spät ist es?«
»Zehn nach fünf. Sie sagt, da liegt ein totes Mädchen in ihrem
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