Schneeschwestern - Wittekindt, M: Schneeschwestern
Freude, der Anblick. Roland Colbert steigt ein, startet den Motor, schaltet das Licht ein.
Blau. Die Tachobeleuchtung ist blau. Roland Colbert achtet nicht darauf. Es geht jetzt um Wichtigeres.
Du musst das machen! Du musst!
Er hält vor dem Bahnhof. Die Telefonzelle gehört zu seinem Plan für den Notfall. Es ist niemand zu sehen. Das Allerschlimmste ist vorbei. Er registriert die Umgebung, zieht Schlussfolgerungen, die seiner Sicherheit dienen. Er muss sich retten. Sofort. Du musst! Ja, er muss den Mut aufbringen. Telefonieren. Das Telefonat ist Bestandteil des Notfallplans. Davon wird nicht abgerückt, das wird nicht infrage gestellt.
Hauptsache, es nimmt keiner ab!
Er steigt also aus. Geht zur Telefonzelle. Ruft an.
Es kommt alles anders. Aber er reagiert gut. Er denkt sogardaran, seine Stimme zu verstellen. Aber es ist schiefgegangen. Keine Frage.
Es war kein Anrufbeantworter, sondern ein Mensch. Jemand war ans Telefon gegangen. Dabei hatte er das doch gecheckt! Ein paar Mal angerufen. Zu verschiedenen Zeiten. Immer gleich aufgelegt. Um zwanzig nach fünf hatte nie jemand abgenommen. Heute hat jemand abgenommen. Aber er hat durchgehalten. Es ist alles in Ordnung, fahr nach Hause! Bleib ruhig.
Der erste, der wichtigste Schritt ist geschafft. Er ist raus aus der unmittelbaren Bedrohung. Und die war von ihm selbst ausgegangen. Jetzt liegt das Schwierigste hinter ihm. Er hat es geschafft, seine Angst zu transferieren. Er denkt nicht darüber nach, was er getan hat, er plant, wie er es schafft, dass sie ihn nicht erwischen. Die Angst, erwischt zu werden, die kann er notfalls aushalten.
Es schneit keine dicken Flocken, sondern mitteldicke. Und sie fallen auch nicht von oben, sie bewegen sich schräg. Dichtes Schneetreiben. Der Wind hat zugenommen. Sergeant Ohayon steht im Dunkeln neben der Leiche und versucht, sich warmzuhalten.
Wenigstens hab ich die Taschenlampe!
Bis eben war Grenier von der Spurensicherung da. Grenier hat, wie immer, präzise gearbeitet. Diesmal musste es offenbar schnell gehen.
»Warum so schnell, Grenier? Weil es so kalt ist oder warum?«
Sie hatte ihm nicht geantwortet.
Ohayon guckt ihr gerne zu. Sieht gut aus, wenn jeder Griff sitzt. Ihre Arbeit erinnert Ohayon an die eines Archäologen. Mit dem Unterschied, dass es heute schnell gehen musste. Grenier hatte nur kleine Löcher gegraben, die Tiefe des Schnees ausgemessen, den Kopf des Opfers vorsichtig angehoben, sich die Stelle angesehen, auf der er lag. Das Gleiche mit dem Arm. Grenier hat viel aufgeschrieben. Vor allemZahlen. Zuletzt hatte sie alles im Umkreis von zwei Metern untersucht. Ohayon war interessiert. »Ist da was? Du siehst was, oder?«
Grenier antwortete ihm nicht. Sie arbeitete.
Ihr war die Unregelmäßigkeit sofort aufgefallen. Sie hatte kurz im Schnee gestochert, den Gegenstand entdeckt, ein Fähnchen in den Schnee gesteckt. Sergeant Conrey kam dazu, Ohayon fragte: »Und? Hat die Hexe was gesagt?«
»Ja. Dass sie das Mädchen angeblich kennt. Sie will aber nur mit dem Kommissar sprechen.«
»Aha.«
Grenier unterbrach die Männer und erklärte ihnen, was sie nicht tun sollten. »Also, Jungs. Wir wissen nicht, was unter dem Schnee ist! Verstanden?«
»Ja, Grenier.«
»Conrey?«
Conrey nickte knapp, Ohayon erklärte: »Wir sollen nicht rumlaufen.«
»Du hast verstanden?«
»Ja, Grenier. Ich bin seit fünfzehn Jahren dabei. Ich laufe nicht rum. Conrey auch nicht.«
Dann war Grenier mit ihrem Rucksack Richtung Wald gelaufen. Am Waldrand war sie noch einmal stehen geblieben, hatte die Fäuste geballt und ihre Arme zum Himmel geschleudert. Grenier hatte den Himmel angebrüllt. Ohayon und Conrey hatten zum Himmel hinaufgesehen und beide etwas gesagt. Danach war Grenier im Wald verschwunden und Conrey ging ins Haus zu Madame Darlan.
Es gibt nichts Schlimmeres als eine Leiche im Freien! Da bricht garantiert ein Unwetter los! Das hatte Grenier mal gesagt. Und sie hatte bei jeder Leiche, die sie im Freien fanden, recht behalten. Nur war es diesmal kein Unwetter, sondern Schnee.
Der fällt leise. Schräg. Schnell und in Massen.
Als Roland Colbert zwanzig Minuten später den Parkplatz am Feensee erreicht, wäre es beinahe passiert. Die Scheibenwischer seines BMW schaffen es nicht mehr, und er sieht kaum noch was durch den festgefrorenen Schneepapp.
Gott! Erst im letzten Moment sieht er das Licht. Er bremst. Kommt noch zum Stehen. Was?
Er springt raus. Er hat sie gesehen. Im letzten Moment. Das Licht. Dann
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