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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gemurmelt. Gut, daß man die Namen des oder der Täter nicht kannte. In diesem Fall hätte Kosinski sie vorm Zorn des Mobs zu schützen gehabt. »Gott gebe, daß es niemand von hier war«, sagte er.
    Milde gegenüber Menschen, die gegen die Gesetze der Gemeinschaft verstoßen, war ein Luxus der Städter. Auf dem Land geht jeder Regelverstoß ans Eingemachte. Wer die ländliche Ordnung stört, verletzt das Gewebe der Gemeinschaft, gefährdet das Leben und Überleben. Bremer hatte langsam begonnen, das zu begreifen. Das änderte nichts daran, daß er die westernselige Selbstherrlichkeit seiner Nachbarn, wie sie sich insbesondere nach dem dritten Bier in der Kneipe entfaltete, des öfteren beängstigend fand. Milde gesagt.
    Kosinski nahm einen tiefen Zug aus dem Glas. »Die Kleine hat nicht viel mitbekommen, sie weiß noch nicht einmal, ob es einer oder mehrere waren.«
    Man hatte Tamara am Nachmittag gefunden. Eine Journalistin wollte sich den Tunnel ansehen und Marius aus Ebersgrund hatte bereitwillig die Fremdenführung unternommen. Und dort, nach zehn Metern, waren sie über die Kleine gestolpert. Sie lebte. Das war die gute Nachricht. Die schlechte, so machte es jedenfalls bald die Runde: sie lag halbnackt auf dem kalten Boden, als man sie fand, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, mit Brandwunden auf der Brust, wie sie glühende Zigaretten hinterlassen. Sie war offenbar geschlagen und vergewaltigt worden. Mehrfach, hatte Marianne gehört. Von Babs, die mit dem Sanitäter ging, der Tamaras Trage ins Rote-Kreuz-Auto gehoben hat.
    »Dann dürften die Täter – oder der – wohl von außerhalb kommen.« Bremer schämte sich ein wenig für die Erleichterung, die ihm der Gedanke verschaffte. Er hatte lange gebraucht, bis er die vielbelachte Hoffnung auf den Fremden verstehen lernte, die man im Dorf hegte, wenn es um das Böse in der Welt ging. Das waren nicht nur Blindheit und Kleingeist und blöde Fremdenfeindlichkeit, sondern die Furcht vor einer größeren Erschütterung der Lebenswelt, als man glaubte verkraften zu können.
    »Wart’s ab.« Kosinski spielte mit dem Bierfilz. Bremer wartete. Denn wenn man wartete, dann redete sogar Kriminalhauptkommissar Gregor Kosinski irgendwann mehr, als er eigentlich durfte.
    »Kennst du den Tunnel?«
    Bremer hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
    »Gerüchteweise. Es gibt da irgendein Geheimnis, über das sie nicht gern reden, die lieben Nachbarn.«
    Kosinski nickte und fügte den drei Eselsohren im Bierfilz ein weiteres hinzu. Von der Theke her hörte man einen kollektiven Aufschrei, eine Art Brüllen gereizter Bullen. Bremer ließ seinen Blick durch den Raum gehen. »Das rauschende Brünnlein« war in den siebziger Jahren mit falschem Fachwerk und Eichenholzimitat an den Wänden auf altdeutsch-gemütlich getrimmt worden. Beim anstehenden Generationswechsel dürften weißer Kellenputz und Eiscafébestuhlung fällig werden. Dieser Trend arbeitete sich von Bad Moosbach aus langsam voran.
    »Nein, über den Tunnel redet niemand gern. Ein Eisenbahntunnel, durch den niemals ein Zug gefahren ist. Und was noch dort geschehen ist, im Zweiten Weltkrieg und kurz danach – das wollen die Leute erst recht nicht mehr wissen.« Kosinski wiegte den Kopf, sein Gesicht noch zerknitterter als üblich. »Das eine ist schon schlimm genug. Aber die Bilanz später, seit den fünfziger Jahren, ist auch nicht schön: ein Selbstmörder, ein bestialisch getötetes Kleinkind, ein vom Vater des Mädchens hingerichtetes Liebespaar… Und nun Tamara.«
    »Aber sie lebt.«
    »Richtig.« Jetzt grinste der alte Fuchs. »Es paßt nicht ganz. Aber ich hab’ so ein Gefühl…«
    »Seit wann hat der Arm des Gesetzes Gefühle?« Bremer guckte unschuldig.
    Aber Kosinski sah an ihm vorbei. »Die Szene war – merkwürdig. Am Boden und in einer Wandnische haben wir Spuren von Wachskerzen gefunden. Und Tamara lag da, als ob man sie auf einer Art Altar zum Opfer hätte bringen wollen. Wie inszeniert.«
    »Und die Verbrennungen?«
    »Sie hat ein Muttermal auf der Brust – ach, du weißt doch, wie Legenden entstehen.«
    »Aber sie ist doch vergewaltigt worden?«
    »Nein, ist sie nicht. Die ärztliche Untersuchung hat keinen Hinweis darauf ergeben.«
    »Und wieso…« Bremer schüttelte den Kopf.
    »Genau. Warum hat man das Mädchen entführt, wenn es nicht um das Offensichtliche ging? Und warum hat sich Tamara nicht gewehrt?«
    »Du meinst, sie ging freiwillig mit dem Täter?«
    »Wer weiß.«
    Dem

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