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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Bierfilz fehlten mittlerweile drei der Ohren. Bremer versuchte, dem Wirt zu winken. An der Theke stand Willi mit erhitztem Gesicht und wirrem Haar. Und dann brachen die Männer wieder in diesen dumpfen, wütenden Laut aus. Ein uralter Laut. Ein Schrei, der nach den ersten Tagen der Menschheit klang – und nach ihren letzten. Bremer spürte, wie er eine Gänsehaut bekam.
    Endlich nickte der Wirt und wenig später standen zwei erstaunlich sauber gezapfte Pils auf dem Tisch mit der grüngenoppten Plastikdecke. Sie tranken schweigend, und Bremer hörte, wie der archaische Laut in das sanftere Plätschern eines halbwegs normalen Männergesprächs überging.
    »Und?« sagte Kosinski nach einer Weile. »Was hältst du vom Fall Krista Regler? War sie’s?«
    »Ich kann es mir nicht vorstellen.« Er hatte zweimal eine Besuchserlaubnis für Preungesheim beantragt, wo Krista in Untersuchungshaft saß. Beide Male wurde abgelehnt. Frau Regler lege keinen Wert auf Besuch.
    »Es soll Orgien gegeben haben in ihrem Haus. Was mitbekommen davon?«
    Bremer sah den alten Freund entgeistert an. »Gregor! Glaubst du etwa alles, was dir erzählt wird?«
    Kosinski breitete die Hände aus. »Eben nicht. Aber du weißt ja, wie man redet.«
    Die Reglers hatten keine Chance. Thomas war der Kindermörder und Krista die untreue Frau, die Orgien veranstaltete. »Und im übrigen«, sagte Bremer fast trotzig, »hätte ich eher auf ihn getippt.«
    »Ich auch.« Kosinski starrte der Rauchwolke hinterher, die, von der Theke kommend, langsam an ihrem Tisch vorbeizog. »Auch im Fall Tamara tippen alle auf ihn.«
    »Was zum Teufel hat das eine mit dem anderen zu tun?«
    »Höchstwahrscheinlich nichts. Aber du weißt doch, wie das geht.«
    Im Schankraum schlug wieder jemand mit der Faust auf den Tisch. Ein vielstimmiges »Bravo!« ertönte.
    »Es ist gut, wenn man einen Sündenbock hat, den man zum Dorf rausjagen kann«, sagte Kosinski leise.
    »Sie haben ihn bereits verjagt.« Bremer hatte die Szene noch vor Augen, die häßlichste Szene, die er in Klein-Roda jemals erlebt hatte.
    »Man muß sie verstehen. Sie können nicht anders. Wenn es Regler nicht war – wer war es dann?«
    Jajaja. Bremer verstand, wenn auch immer widerwilliger.
    »Und außerdem ist Regler gesehen worden, in der Nacht zuvor, von Rudolf, der wieder mal auf der Pirsch war. Der Regler sei viel zu dünn angezogen und augenscheinlich betrunken über den Feldweg Richtung Heckbach geschwankt.«
    »Das ist die falsche Richtung, der Tunnel liegt bei Ebersgrund.«
    »Natürlich. Aber was hat so ein Städter schon draußen zu suchen in der Nacht? Bei Rudolf ist das was anderes. Ein Jäger muß auch mal außerhalb der Jagdsaison nach dem Rechten schauen.«
    Kosinski guckte bierernst. Natürlich wußten alle, daß Rudolf, der Jagdpächter aus Bad Moosbach, sich zu jeder Jahreszeit was für den Topf schoß, wenn ihm danach war. Aber der war einer von hier.
    »Irgend etwas stimmt hier nicht. Und ich hab da so ein Gefühl…« Kosinski klang weit weg.
    Bremer hatte plötzlich auch eins. Oder nannte man das Eingebung? »Ab wann darf man wieder da rein?«
    »Wo rein?« Kosinski guckte erst verständnislos, dann belustigt.
    »In den Tunnel natürlich.«
    »Immer. Die Spurensicherung ist längst fertig. Aber wenn du noch eine Runde bestellst, gebe ich dir einen Tip.«
    Bremer winkte Richtung Theke und machte das Zeichen für zwei Pils. Kosinski lächelte wieder, aber diesmal ohne erkennbare Freude.
    »Frag deinen Nachbarn Gottfried nach dem Tunnel. Ein Stich in ein Wespennest ist nichts dagegen.«

15
    E ines Morgens hörte es auf zu regnen. Blauer Himmel mit weißen Wolkenfetzen spiegelte sich im Wasser, das in der Flußaue stand. Der schwarze Zeiger des Barometers war auf über fünf Uhr vorgerückt. In der Nacht begann Nemax sehnsüchtige Rufe von sich zu geben. Gottfried behauptete einige Tage später, er habe die ersten Stare gesehen.
    Von Anne Burau kam eine Postkarte: »Hier ist Herbst.«
    Absender: Johannesburg, Südafrika. Wirtschaftskonferenz? Weltklimagipfel? Bremer hatte den Überblick verloren.
    Und eines anderen Morgens sah er auf dem Weg zum Komposthaufen einen blaßgelben Blütenteppich unter der Forsythie, deren Knospen kurz vorm Platzen waren. Der erste Krokus. Wenigstens die Jahreszeit veränderte sich.
    Alles andere schien in einer Art Schwebezustand zu verharren. Er wartete auf die Druckfahnen. Er wartete auf Anne. Er wartete auf einen Anruf von Karen, mit der er nicht mehr

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