Schneesterben
gesprochen hatte seit der Verhaftung von Krista. Er wartete darauf, daß die Angst sich endlich löste, die wie ein nasser Sack über Klein-Roda und Umgebung lag. Alle warteten.
Nur Ortsvorsteher Wilhelm hörte endlich auf seine Frau, was er schon früher hätte tun sollen.
»Hast’ schon gehört?« Marianne putzte bereits die Fenster, als Bremer zum ersten Mal das Haus verließ, um die ausgelesenen Zeitungen zur Papiertonne zu bringen.
»Ich kriege nie was mit, das weißt du doch«, antwortete er und versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
Marianne guckte nachsichtig. »Du solltest abends öfter ins ›Rauschende Brünnlein‹ auf ein paar Pils gehen, statt allein vor dem Kamin neben der Rotweinflasche zu sitzen.«
Bremer gab ihr schuldbewußt recht. Er wurde langsam zum komischen Alten, und das weit vor der Zeit.
»Also: was kann ich aufgrund meiner anhaltend festen Bindung an Rotweinflaschen noch nicht gehört haben?«
Mariannes Lächeln verging. »Es ist Wilhelm.« Sie flüsterte fast, wie sie es immer tat, wenn es um ein Thema ging, das eine gewisse Schicklichkeit gebot. »Du weißt doch – immer diese Husterei. Und jetzt ist er im Krankenhaus.«
Man konnte sich den Ortsvorsteher beim besten Willen nicht in einem weißbezogenen Krankenhausbett vorstellen, gar noch ruhig liegend. Wilhelm war der gute Geist Klein-Rodas, der Hausvater, der immer da war, wenn es etwas zu reparieren oder zu organisieren oder zu schlichten gab.
»Und wer…« organisiert das Feuerwehrfest zu Ostern, hätte er fast gefragt.
»Eben.« Marianne wischte noch einmal über das makellos geputzte Fenster. »Und dann ist wieder Ortsbeiratssitzung.«
»Und dann sind die Wahlen«, sagte Bremer, der dieses Jahr zum ersten Mal den Bürgermeister mitwählen durfte und sich seither entsetzlich eingemeindet fühlte. Vom Kosmopoliten zum Landei – so kann’s im Leben gehen, dachte er.
»Ach übrigens – die Wahlen.« Marianne zog die Stirn kraus. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Na sag’ schon, Marianne.«
»Moritz Marx hat seine Kandidatur angemeldet.« Sie sah ihn von der Seite an, als ob sie fürchtete, er würde in Jubel ausbrechen.
»Unser Oberbesserwisser?« Das war nicht zum Jubeln, sondern zum Lachen. Das mußte man sich mal vorstellen: Dritte-Welt-Pullover-Moritz als Bürgermeister!
»Er ist bei manchen Leuten sehr beliebt«, sagte Marianne mit ungewohnter Zurückhaltung.
»Du meinst: bei all denen, die ›Im Wiesengrund‹ und ›Im Hohl‹ noch ihre Häuser trocken wohnen müssen?«
»Ich hab’ nix gesagt.« Marianne schloß das Fenster.
Am Nachmittag rief Ortsvorsteher Wilhelm an. Der Alte konnte kaum sprechen vor Husten.
»Kann ich was für dich tun?« Bremer fragte in aller Unschuld, wie jemand, der vor dem Krankenhausbesuch wissen will, ob er Obst oder Schokolade mitbringen soll.
»Daß du das fragst, Paul!«
Wilhelms Dankbarkeit überraschte ihn. Und mehr noch überraschte ihn der Vorschlag, den Wilhelm ihm unterbreitete. »Aber ich kann doch nicht…«
»Bin ja bald wieder da.«
»Aber ich bin doch gar nicht offiziell…«
»Muß ja niemand wissen.«
»Aber der Ortsbeirat?«
»Findet das völlig in Ordnung.«
Ein Hustenanfall beendete das Gespräch. Aber Bremer hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zu allem Ja und Amen gesagt. Paul Bremer, der zugezogene Stadtflüchtling, sollte den Ortsvorsteher vertreten, bis der wieder aus dem Krankenhaus kam. Ein Abenteuer mit Ungewissem Ausgang. Und mit einem vollen Arbeitsprogramm.
Seltsamerweise gefiel ihm seine neue Rolle als Hausmeister der Gemeinde. Klein-Roda und Umgebung boten plötzlich wieder Überraschungen: Er entdeckte verwunschene Gärtchen und Obstwiesen, verborgene Bachläufe, versteckte Fischteiche und wilde Müllkippen. Die Abseiten der ländlichen Schönheit; die verwahrlosten Ställe, halbverhungerten Haustiere und stoisch vor sich hinsterbenden Alten. Es kam ihm vor, als hätte er bislang wie ein Satellit einen unbekannten Kosmos umkreist.
Irgendwann war der Krokus verblüht, das blendende Gelb der Forsythien verblaßt. Die Magnolie blühte auf und verging in einer einzigen frostigen Nacht. Dann platzten die Fliederknospen. Und eines Morgens stand ein Bericht über den Prozeß gegen Krista Regler in der Zeitung. Der Reporter versuchte das Beste aus seinen wenigen Informationen zu machen: Krista Regler hatte ihr Geständnis nicht zurückgenommen, sich aber auch nicht über das Motiv für ihre Tat geäußert. Die ermittelnde Staatsanwältin
Weitere Kostenlose Bücher