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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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gewohnt zu sein,Akif zu bedienen.
    Thomas kannte Leute wie Akif. Sie gaben ihre Gunst und nahmen sie auch wieder, wenn ihnen danach war. Aber niemals durfte man sie zurückweisen, wenn sie zufällig gute Laune hatten. »Kaffee«, sagte er. Akif nickte Harun zu.
    »Mit Milch und Zucker.«
    Akif sah Regler mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dann nickte er, als ob Thomas eine Probe bestanden hätte.
    »Mit Milch und Zucker, natürlich, Herr Doktor.«
    Sie tranken schweigend, während Lessie einen komplizierten Rhythmus auf die Matratze klopfte, Pjotr am Fenster lehnte und hinausstarrte und Harun mit einem Tuch über das Regal und den Fernseher wischte. Von Wolfgang, der auf der Pritsche über Lessie lag, sah man nur die Glatze und den bunten Umschlag eines Taschenbuchs.
    »Also. Ich hätte als erstes die Frau rangenommen«, sagte Akif schließlich. »Danach würde die nie mehr fremdgehen.« Er lachte in sich hinein. »Die würde gar nichts mehr wollen danach.«
    »Nur noch ’nen Sarg«, sagte Pjotr, als ob er den Witz schon oft gemacht hätte.
    »Das kannst du singen.«
    Thomas antwortete nicht. Er spürte, wie Akif ihn von der Seite her musterte. Dann stieß ihm der andere den Ellenbogen in die Rippen. Fast hätte er den Kaffee verschüttet.
    »Ist sie schön?«
    »Ja.« Und sie wird ihre Schönheit auch nicht verlieren in einem dunklen Loch inmitten von Nutten und Ladendiebinnen. So wahr mir Gott helfe.
    »Wie alt?«
    »Fünfunddreißig.« Und sie wird ihren Geburtstag in Freiheit verleben. Einen anderen Mann finden. Endlich glücklich sein. Thomas unterdrückte den Wunsch, zu weinen.
    Akif spuckte den Schluck Kaffee, den er im Mund hatte, in weitem Bogen aus vor Lachen. »Wegen so einer Alten gehst du in den Knast?«
    Lessie hatte sich aufgesetzt und starrte Regler an. Sogar Pjotr drehte sich um.
    Mit Erleichterung hörte Thomas, wie ein Schlüssel ins Schloß gestoßen wurde. »Kostausgabe!« rief der Bedienstete, ließ den Schlüsselbund klirren und riß die Tür weit auf. Es war noch nicht einmal später Nachmittag. Thomas hatte keinen Hunger.
    Lessie war als erster aus der Stube und stellte sich in die Reihe vor dem Servierwagen. Der Mann, der hinter dem Wagen stand, ein stoppelbärtiger Dicker im grauen Trainingsanzug, legte den Kopf zur Seite, während er jedem eine Portion aus den Aluminiumcontainern schöpfte. Er war sichtlich stolz auf das Privileg, seinen Mitgefangenen das Essen ausgeben zu dürfen. Thomas stellte sich hinter Pjotr, der zwei Teller in der Hand hielt. Akif war im Zimmer geblieben.
    Nach einer Weile merkte Thomas, daß er dabei war, über jeden der Männer um ihn herum eine Krankenakte anzulegen. Der eine hatte eine böse aussehende Psoriasis, seine Hände waren rot, aufgesprungen und geschwollen. Ein anderer, der aussah wie der Scheich in einem Hollywoodschinken, ging auf Krücken. Das rechte Bein schien oberhalb des Knies amputiert worden zu sein. Die gebrochenen und schlecht wieder eingerichteten Nasen mochte er kaum noch zählen. Dem jungen Typen mit den hellblauen Augen unter dem dunkelblonden Haarschopf, der sich eben seinen Teller abholte, wünschte er plötzlich mit ungewohnter Inbrunst, das Untersuchungsgefängnis mit seinen Regeln, dem geordneten Tagesablauf und den zahlreichen Freizeit und Ausbildungsmöglichkeiten würde sich als Chance erweisen für einen wie ihn. Und für den ausgemergelten Jungen neben ihm, der seinen Entzug noch nicht lange hinter sich hatte.
    Der Hausarbeiter hinter dem Thermowagen ließ eine rosa Zungenspitze zwischen den Lippen sehen, als er Regler den Teller füllte. Nicht so viel bitte, hätte Thomas fast gesagt. Doch das hätte hier niemand verstanden. Der Fraß sah gar nicht schlecht aus, aber zurück in der Stube war der Essensgeruch so intensiv, daß ihm der Appetit verging.
    Lessie war fast fertig, er schlang das Essen ausgehungert in sich hinein. Wolfgang saß schon wieder auf dem Bett, ließ die Beine von der Pritsche baumeln und schien auch beim Essen noch zu lesen. Akif war beim Nachtisch, den Harun ihm servierte. Sauerkirschen aus dem Glas. Und Pjotr schmatzte, so unschuldig und ungebremst, wie er rülpste und furzte. Wie beim Bund, dachte Thomas. Wie im Krieg. Wie immer, wenn keine Frauen dabei sind.
    Nach dem Essen holten Pjotr und Wolfgang ein Kartenspiel hervor und begannen zu pokern. Wenn die Zahlen, die Wolfgang nach jedem Spiel ausrief und dann auf der Innenseite des Taschenbuchs notierte – er las einen dicken Schmöker von John Grisham

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