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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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Untersuchung an ihm vornahm, deren Sinn Bremer genausowenig verstand wie der alte Herr.
    Als er den umfangreichen Aufgabenkatalog notiert und abgearbeitet hatte, war es später Vormittag. Er schlug sich die letzten beiden Eier in die Pfanne, las beim Essen in der Zeitung und ging nach dem Abwasch mit dem leeren Eierkarton rüber zu Gottfried.
    »Gottfried ist hinten«, rief Marie, die den Kopf über einen großen, dampfenden Topf gebeugt hatte, ohne sich nach ihm umzusehen. Bremer legte den Karton und einsfünfzig auf den Küchentisch und ging in den Garten. Aus der Volière erklangen die aufdringlich gutgelaunten Gesänge einer Truppe von strahlendgelben Kanarienvögel. Der schwarzrotgoldene Altsteirer Hahn stolzierte mit geschwellter Brust vor seinen Hennen, die eilig durchs frische Gras liefen und mit dem Schnabel nach allem stießen, was sich regte und eßbar schien.
    Gottfried stand im Karnickelstall, hatte eine nicht sehr saubere Metzgerschürze an und einen Stallhasen im Arm. Bremer legte dem Tier die Hand aufs blaugraue, silbrige Fell.
    »Meißner Widder«, sagte Gottfried. »Siehst du? Perfekter Behang, ausgeprägte Ramsnase.«
    Die anderen Tiere saßen still in ihren Ställen und schienen auf etwas zu warten. Gottfried ging voran in die Garage.
    »Wie geht’s Wilhelm?« Gottfried streichelte das Kaninchen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann setzte er es auf den Tisch neben der verkratzten Edelstahlspüle. Das Tier blieb hocken, bewegte aber nervös seine langen, fleischigen Hängeohren.
    »Der Husten ist schlimmer geworden.«
    Gottfried nahm das Luftgewehr, das an den Tisch gelehnt war, packte den Stallhasen an den Ohren und setzte den Lauf an. Es gab einen trockenen Knall. »Ich hab ihm schon vor Jahren gesagt, er soll endlich was unternehmen. Der alte Dickschädel.«
    Er legte das leblose Tier behutsam nieder, nahm zwei Messer aus dem Regal und zog sie mit dem Schleifstein glatt. Das Kaninchenfell glänzte unter der Neonröhre. Dann sah er auf. »Wer Tiere hat, muß sie auch töten können. Das gehört dazu.«
    Bremer nickte. Gottfried sagte das jedesmal, wenn er ein Kaninchen bei ihm kaufte. Der sentimentale Hund hatte wahrscheinlich ein schlechtes Gewissen, wenn er eines seiner preisgekrönten Karnickel schlachten mußte, das er monatelang mit dem frischesten Gras von den besten Wiesen gefüttert hatte. Er zögerte einen Moment. Sollte er ihn fragen?
    »Kannst du mir was erklären?«
    Gottfried brummte Zustimmung, während er das tote Tier an den Hinterläufen packte und ihm über der Spüle die Kehle durchschnitt. Das Blut dampfte, als es ins Spülbecken rann.
    »Was ist mit dem Tunnel in Ebersgrund? Ich hab’ nichts verstanden gestern abend.«
    »Was gibt’s da zu verstehen?« Gottfried legte das Kaninchen wieder auf den Tisch.
    »Komm, Gottfried!« Der alte Herr wußte genau, was er wissen wollte.
    Gottfried schnitt dem Kadaver den Kopf ab, drehte ihn dann auf den Rücken, hob das Fell leicht an und schlitzte es mit der scharfen Klinge der Länge nach auf.
    »Den Tunnel haben die Nazis gebaut«, sagte er, als ob es sich um ein Denkmal aus der Römerzeit handelte.
    »So weit bin ich auch schon.« Bremer wurde langsam ungeduldig.
    Gottfried seufzte. »Die Nazis haben Polen da drin arbeiten lassen. Oder Russen. Zigeuner. Arme Schweine. Ich war gerade mal zehn, als das losging. Das wurde streng bewacht. Da durfte niemand rein.«
    »Soweit alles klar. Und Moritz Marx will…«
    Gottfried griff zum Beil und trennte mit gut gezielten Hieben die Pfoten von den Kaninchenbeinen. »Der Affe will aus dem Tunnel eine Art Gedenkstätte machen.«
    »Und was habt ihr dagegen? Ich meine – das gehört nun mal zu unserer Geschichte.«
    »Schon.« Gottfried zog dem Kaninchen das Fell vom Leib. »Aber die ganz Nazichose – das war ja nicht das einzige.«
    »Nein?«
    »Nein.« Der Alte ließ sich heute bitten.
    »Und?«
    »Und was?« Der Mann in der Metzgerschürze hatte die Hand tief in dem kleinen Kadaver vergraben. Es roch nach verdautem Gras, als die Kaninchendärme platschend in den Eimer zu dem blutigen Fell fielen.
    »Was war noch?«
    Der Alte wusch sich geräuschvoll und gründlich die Hände und drehte Bremer den Rücken zu. Als er sich wieder umdrehte, war das sonst so freundliche runde Gesicht verschlossen.
    »An manches möchte hier niemand erinnert werden«, sagte er. Er schien Bremer anzusehen, was er dachte, und schüttelte den Kopf. »Nicht, was du glaubst. Nicht an allem, worüber man nicht

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