Schneesterben
nachdenken will, sind die Nazis schuld.«
»Aber…«
»Man muß sowas in Ruhe heilen lassen. Und das dauert.«
Gottfried hielt das Kaninchen unters fließende Wasser, tupfte es ab und hängte es dann an einen Haken an der Decke. »Sag Bescheid, wenn du mal wieder eins willst.«
20
JVA Strang
A ls man Regler in den Haftraum brachte, war niemand da. »Die Jungs haben Freistunde. Da können Sie es sich erst mal in aller Ruhe gemütlich machen«, sagte der Mann im grünen Pullover, der ihn ablieferte, ganz ohne Ironie. Und wieder schloß sich die Tür hinter ihm, mit diesem vertrauten Geräusch, das durch Gefängnisse hallt, seit Schlüssel und Schloß erfunden wurden.
Im Zimmer standen drei doppelstöckige Betten. Die einzige Pritsche, die nicht bezogen war, mußte seine sein; es war die untere der beiden am Fenster. Es roch nach benutzten Männersocken und kaltem Kaffee. Im Regal an der Wand hing eine bunte Perlenkette mit goldenem Kreuz unter einer Reihe Taschenbücher. Regler trat näher. Krimis und Konsalik und ein Buch mit einer glutäugigen, verschleierten Dame vorne drauf. Ein türkischer Loreroman? Daneben ein Schraubglas Nescafé, eine Tüte Schnittbrot, ein Glas mit Sauerkirschen. Auf dem Schränkchen darunter stand ein Fernseher. Regler ertappte sich beim Gedanken, wie oft es hier wohl Streit ums Fernsehprogramm gab und ob er dauernd »Britta am Mittag« oder ähnliches würde sehen müssen.
Er bezog sein Bett mit der blauweiß karierten Bettwäsche und suchte sich einen Platz für Zahnbürste, Zahnpasta und Rasierer. Durch das gekippte Fenster hörte man es rufen. Und dann brüllte eine andere männliche Stimme zurück. Regler trat ans Fenster. Es öffnete sich auf einen Rasenplatz mit steinernen Sitzbänken, wohl der Innenhof des Gefängnistrakts. Der Mann im Zimmer nebenan schrie etwas, das er nicht verstand. Aus dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Karrees hing ein Arm und winkte.
Regler kam es vor, als habe er diese Szene schon irgendwo gesehen. Dann rasselte der Schlüsselbund vor der Tür seiner Zelle. »Bitte sehr, die Herren«, sagte der Vollzugsbeamte. Einer nach dem anderen schob sich in den Raum.
Der erste war ein kleiner, muskulöser Mann mit dunklem Lockenkopf. Er baute sich vor Regler auf.
»Traut man ihm gar nicht zu, wenn man ihn so sieht, oder?« Die anderen nickten und feixten. Der Kleine legte die Hände auf den Rücken und tänzelte um Regler herum, als ob er dessen Sprungkraft und Ausdauer taxieren wollte. Dann rieb er sich die Nase und schüttelte den Kopf: »Aber eines haben wir uns hier die ganze Zeit schon gefragt: Warum hast du die Schlampe nicht gleich mit umgelegt?«
Alle lachten. Nur Regler hatte weiche Knie.
»Akif«, sagte der Kleine und hielt ihm die Hand hin.
»Und das sind Lessie, Pjotr, Harun und Wolfgang.« Er zeigte auf einen bleichen Jungen mit Aknenarben im Gesicht, der einzige, der die blaue Anstaltskleidung trug; auf einen blonden Hünen mit finsteren Zügen, einen Glatzkopf und einen dürren Mann mit lederner Haut, der wie der Gewürzhändler auf einem Basar aussah.
»Thomas«, sagte er schwach und schüttelte einem nach dem anderen die Hand.
Akif nickte und ließ sich auf Thomas’ frischgemachtes Bett fallen. Dann schnalzte er mit den Fingern. Harun machte sich am Wasserkocher zu schaffen.
Akif (»Vergewaltigung, versuchter Totschlag«) war eindeutig der Chef der Zimmerinsassen, die er mit »Paßfälschung«, »Körperverletzung mit Todesfolge« und »Dealen und Anschaffen« bzw. »betrügerische Insolvenz« (Wolfgang) vorstellte. Keiner ließ erkennen, daß er auf das einschränkende Adjektiv »mutmaßlich« großen Wert legte.
Während Harun Kaffee kochte, zog der bleiche Junge namens Lessie Akif die Stiefel aus und begann, als der Meister ihm die Hand auf den Kopf legte, auch dessen Hose zu öffnen. Akif lehnte sich zurück und sah zu Regler hinüber, der noch immer in der Nähe der Tür stand.
»Ob wir damit unseren neuen Kameraden schockieren? Was meinst du, Lessie?« Akif verpaßte dem Jungen spielerisch eine Kopfnuß. »Sollen wir unser kleines Vergnügen auf später verschieben?«
Lessies Gesicht blieb ausdruckslos, als Akif ihn wegschob. Linkisch stand er auf und legte sich auf das untere Bett rechts vom Fenster, wo er mit geöffneten Augen auf die Matratze über ihm starrte. Akif winkte Thomas an seine Seite. »Kaffee?« fragte er und lächelte breit. »Wodka? Ein Näschen?« Harun lauerte im Hintergrund, er schien es
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