Schneesterben
–, wenn solche Beträge echtes Geld hießen, hatte einer der beiden irgendwann ganz schön was abzubezahlen.
Lessie hatte den Fernseher eingeschaltet und sah Nachrichten. Selbstmordanschlag in Tel Aviv. Flüchtlingsboot mit schätzungsweise 200 Insassen vor der Küste Fuerteventuras gekentert. Der Mai: für die Jahreszeit zu kühl. Thomas spürte, wie sich die Welt immer weiter von ihm entfernte. Er schaute zu Lessie hinüber. Der Junge bewegte die Lippen, während der Wettermann die Wetterkarte interpretierte. Auch für Lessie schienen die Nachrichten von Außerirdischen zu stammen.
Akif stand schon seit einer Weile am Fenster, ließ sich von Harun aus einer Wodkaflasche einschenken und sprach leise in ein Handy.
Thomas steckte den Krimi, den er mit Einverständnis von Wolfgang aus dem Bücherregal genommen hatte, unter das Kopfkissen, legte sich aufs Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und versuchte, weder an Krista noch an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken, sondern sich mit dem Überleben in nächster Gegenwart zu beschäftigen.
Akif war der Schlüssel zu seiner Position hier. Der Mann hatte nichts gegen jemanden, der den Liebhaber seiner Frau umgebracht hatte, ganz im Gegenteil. Aber er hatte unter Garantie etwas gegen »feine Leute«. Gegen jemanden, der sich aufspielte, der sich wichtig machte. Der sich überlegen gab. Thomas nahm sich vor, auf gleiche Augenhöhe zu gehen.
Er hatte nicht bemerkt, daß Akif seine Gespräche beendet hatte und Anstalten machte, sich zu seinen Füßen auf die Pritsche zu setzen. Alles Prahlerische war aus seinem Gesicht verschwunden. Der Junge sah sanft aus, die dunklen Augen melancholisch.
»Wodka?«
Beinahe hätte Thomas nein gesagt. Er nickte stumm. Akif winkte nach Harun, ohne sich auch nur nach ihm umzusehen. »Die erste Nacht ist immer die schlimmste«, sagte er und kreuzte die Arme vor der Brust, als ob ihm kalt wäre.
Thomas hob stumm das Glas und prostete dem anderen zu.
»Aber bei uns hier ist alles tranquilo. Du mußt nichts geben auf das, was Pjotr sagt. Oder Lessie. Die sind nicht die Hellsten, verstehst du?« Akif machte eine wegwerfende, den ganzen Raum und seine Insassen umfassende Geste. »Und wenn irgendeiner dich morgen beim Hofgang anmacht – sag ihm einen schönen Gruß von Akif.«
Der Dunkelhaarige tätschelte Thomas’ Knie, stand auf und ging hinüber zur Pritsche, auf der Lessie lag. Niemand sagte etwas. Aber Thomas kannte die Geräusche. Nach ein paar Minuten stöhnte Akif auf.
Thomas schloß die Augen. Alles war plötzlich wieder da. All die verdammten Jahre, die verlorenen Jahre, die kalten Jahre in Falkenburg. Roger, der schwitzend und schwer atmend vor ihm stand, sich am Hosenlatz herumfummelte und ihm befahl, auf die Knie zu gehen. Und dann Henry. Henry ersparte ihm Roger, auch wenn er das gleiche wollte. Immerhin brachte er es ihm auf wesentlich sanftere Weise bei. Irgendwann hatte Thomas selbst daran geglaubt, es sei etwas ganz Besonderes, was der so viel Ältere und Einflußreichere und er miteinander trieben jeden Abend im Behandlungszimmer des Anstaltsarztes. Thomas hatte es für Liebe gehalten, irgendwann. Er war erst fünfzehn.
Und dann sah er Krista vor sich. Wie sie ihn ansah, als er nach der Verhandlung an ihr vorbeiging, gefolgt von zwei Justizwachtmeistern. Ihre blauen Augen wirkten riesengroß in dem schmalen weißen Gesicht. Sie sah ungläubig aus, entgeistert. Entsetzt.
»Ich kenne mich mit sowas besser aus als du«, hatte er ihr zugeflüstert. Mit tiefem Erschrecken hatte er in ihrem Gesicht gelesen, daß sie das nicht bezweifelte.
Thomas Regler merkte, wie die Sehnsucht nach ihr einer tiefen Beunruhigung wich. Was weißt du, Krista? Was ahnst du? Was denkst du? Ich habe dich nicht belogen. Ich habe nur – etwas verschwiegen.
Nein! Sieh mich nicht so an. Laß mich doch erklären… Er mußte irgendeinen Laut von sich gegeben haben.
»Lessie macht’s für jeden, der bezahlt«, sagte eine Stimme hinter ihm. Aber Regler tat, als ob er schliefe.
Kurz bevor er wegdämmerte, erlaubte er sich ein Gefühl der Erleichterung. Akifs Haltung ließ keinen Zweifel zu: Ihm war ein Pakt angeboten worden. Akif würde davon absehen, ihn zu seinem Sklaven zu machen. Statt dessen war ihm die Aufgabe zugefallen, Akifs Ansehen zu mehren.
21
Frankfurt am Main
M itten in der Konferenz kippte Karen Stark um. Sie erinnerte sich nur noch, daß sie Eva Daun angrinsen wollte, weil die Kollegin einen wunderbar gemeinen
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