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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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David.
    Loreroman, dachte Karen. Krimikitsch. Michael Hansen ist nachweislich mit dem Auto von Thomas Regler angefahren und vielleicht von Thomas oder Krista Regler oder einem unbekannten Dritten mit einem Stein erschlagen worden. Mehr wissen wir nicht. Und mehr werden wir auch nicht erfahren, wenn die Herrin des Ermittlungsverfahrens weiterhin halbnackt am Schreibtisch sitzt, zuviel trinkt und ihren Liebeskummer hätschelt.
    Ihre Augen brannten. Sie schaltete das Notebook aus und ging ins Bett. Wie ein Kind zog sie sich die Bettdecke hoch bis unters Kinn und starrte zum Fenster, durch das der schwache Widerschein der Morgendämmerung hineindrang. Laß es, dachte sie. Du hast ein Geständnis, das reicht. Alles andere ist nicht deine Aufgabe.
    Stimmt nicht, sagte die strenge innere Stimme. Alles, was der Wahrheitsfindung dient, gehört zum Job. Und außerdem…
    Der Gedanke war ihr unbehaglich, aber sie hatte den Verdacht, daß er die Sache traf: Das Geheimnis der tödlichen Verbindung dreier Menschen zu ergründen war eine Aufgabe, die ablenkte. Von Schwächegefühlen aller Art.

22
    JVA Strang
    D as Imperium Akifs funktionierte nach klaren Gesetzen. Lessie war persönliches Eigentum, das sexuelle Dienstleistungen zu verrichten und sich demütigen zu lassen hatte. Pjotr war der Mann fürs Grobe, der die Muskeln zeigte, wenn irgendwer subtilere Hinweise nicht verstand. Harun war die Hausfrau, er putzte und servierte dem König die Drinks. Wolfgang schien auf den ersten Blick nicht hineinzupassen in das kleine Universum. Akif ließ den Glatzkopf in Ruhe und wenn er ihn ansprach, dann kurz und sachlich. Gestern früh hatte er ihm einen Brief in die Hand gedrückt, in einem der grauen Umschläge, wie Behörden und Finanzämter sie benutzen.
    Heute früh gab Wolfgang Akif ein eng beschriebenes Blatt Papier zurück.
    Akif sah auf das Blatt, faltete es sorgfältig zusammen und nickte.
    »Das übliche«, sagte Wolfgang und wandte sich ab. Wolfgang verfügte über eine andere Macht als die rohe Durchsetzungskraft Akifs. Er verfügte über Worte.
    Er konnte Eingaben schreiben, Petitionen, Rechtfertigungen. Liebesbriefe, Kassiber, Anwaltspost. Auch er war ein König in einer Welt der Analphabeten. Wie viele Männer hier im Knast wohl lesen konnten? Oder schreiben? Oder gar Deutsch sprechen und verstehen? Bei der Essensausgabe hatte Thomas die Männer türkisch oder arabisch oder irgendeine osteuropäische Sprache reden hören. Deutsch war die Brücke, die lingua franca zwischen den einen und den anderen, aber alle hatten sich ihre je eigene Version davon zurechtgemacht.
    Wolfgang und er gehörten zur Knastelite. Wahrscheinlich waren auch seine Dienste irgendwann einmal gefragt. Das sollte ihm recht sein – solange niemand ihn bat, einen Liebesbrief zu schreiben.
    Gefühle. Hast du überhaupt welche? hatte Krista einmal gefragt, im Scherz. Im Ernst. Natürlich hatte er. Mehr als genug. Er mochte nur nicht darüber reden. Denn alles, was man in Worte faßte, drohte sich aufzulösen, wie in einem Säurebad. Worte waren gefährlich. Er hatte immer Angst gehabt vor Worten. Nicht davor, eine ärztliche Anweisung zu geben oder eine Diagnose auszusprechen. Alles, was rational war, machte kein Problem.
    Es waren die Zaubersprüche, die ihn schreckten. Die schönen, schillernden Lügen. Magische Sätze, Beschwörungsvokabeln. Er hatte Angst vor der Macht, die sie ausüben konnten.
    Manchmal hatte er sogar vor seinen Gedanken Angst, noch immer, genauso wie damals, als er ein Kind war, als er heranwuchs. »Wenn du nur fest genug daran glaubst, dann wird es wahr«, hörte er seine Mutter flüstern. Der Satz war ihm nie als Verheißung erschienen. Was, wenn man an etwas Falsches oder Verbotenes dachte? Was, wenn die Wut plötzlich in einem hochstieg und man Dinge dachte, Dinge, die nie geschehen durften?
    Was, wenn man sie sagte, brüllte, herausschrie?
    Wie Mutter, an einem dieser Tage, an denen sie schon morgens nach Alkohol roch. An denen sie den Kopf zurückwarf und unverständliche Sätze deklamierte. An denen sie den Tag verfluchte, an dem sie ihn geboren hatte.
    Er hörte das Surren der Schmeißfliegen auf dem toten Igel am Wegesrand. Roch den Duft des geschnittenen Heus und des unter der Sonne warm gewordenen Asphalts. Dann die Kühle und die Dunkelheit und die Kerzen. Und die feuchtgeschwitzte Hand in seiner.
    Die Tür knallte auf. »Essen!« Er schreckte hoch und stieß sich den Kopf am Rahmen der Pritsche über ihm. Akif lachte

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