Schneesterben
Antwort.«
Karen kannte die Antwort. »Es waren beide.«
»Genau.« Edith schnalzte mit den Fingern. »Wenn das ein stinknormales Eifersuchtsdrama ist, dann bin ich ab sofort hetero.«
Karen lief auf nackten Füßen die Treppe hinunter, um Edith die Haustür aufzuschließen. Sie gackerten so laut, daß hinter der Wohnungstür von Frau Hecht das Licht anging.
Als sie wieder oben war, fühlte sie sich hellwach. Sie goß sich Wein nach, setzte sich an den Schreibtisch und schaltete ihr Notebook ein. Dann machte sie sich auf die Suche im Netz.
Auf Anhieb erhielt sie fünf Seiten Treffer für Michael Hansen. Ihr war schnell klar, was Krista Regler in Michael Hansen gesehen haben könnte: auch sie hätte sich in den Mann verlieben mögen. Hansen war weit attraktiver als der verschlossene und eher schüchtern wirkende Kinderarzt, den die Regler geheiratet hatte.
Sie versuchte, in dem Gesicht zu lesen, das ihr auf dem Bildschirm entgegensah.
Michael Hansen, 1968 geboren in irgendeinem Kaff auf dem Land. Nach der Schule Bundeswehr, danach Entwicklungshelfer, Fremdenlegionär und Ballonfahrer. Buchautor. Sechs Bücher hatte der Mann geschrieben, für das letzte warb der Verlag mit Porträt und Zitat: »Ich habe alles gemacht, wovon man als Junge träumt. Ich habe das Träumen aufgegeben. Die Wirklichkeit ist Albtraum genug.« Angeber, dachte Karen. Müssen attraktive Männer immer so typische Vertreter ihres Faches sein? Seefahrer oder Großwildjäger oder andere Wind-und-Wetter-Gestählte aus dem Playboykatalog?
Hansens Reportagen von den Kriegsschauplätzen der Welt minderten das Wohlgefühl, das sich seit Ediths Besuch eingestellt hatte. Die Fotos zu einem seiner Berichte zeigten schwarze Leiber, grotesk verrenkt, einige ohne Köpfe oder Beine und Arme. Und neben ihnen stand ein schwarzer Mann in kurzen Hosen und mit nackter Brust, der sich auf eine Art Machete stützte.
In einem weiteren Illustriertenbericht dokumentierte Michael Hansen ein Massaker muslimischer Fanatiker an ihren christlichen Nachbarn in Osttimor. Und so weiter und so fort. Karen hatte schon lange nicht mehr eine solch geballte Sammlung von Greueln gesehen. Sie klickte sich immer hastiger vor. Kongo. Afghanistan. Nepal. Zimbabwe. Und dann klickte sie sich zurück auf die aktuellsten Treffer. Diesmal war es nicht Hansen, der berichtete. Diesmal berichteten Kollegen von seinem Tod – einem beiläufigen Tod auf der verschneiten Zufahrt vor einem schäbigen Bungalow in einer ansonsten leerstehenden Feriensiedlung bei Usingen. Karen betrachtete das Foto, das man der Geschichte vorangestellt hatte – die Porträtaufnahme eines Mannes mit harten Linien im Gesicht unter den blonden Haaren, der das kantige Kinn in die linke Hand stützte, wie es eine Zeitlang üblich war auf Prominentenfotografien. Der Mann lächelte nicht. Die hellen Augen wirkten kühl.
Über Thomas Regler war nicht im entferntesten so viel zu finden, aber immerhin – sein Porträt und eine Kurzbiografie fanden sich auf der Homepage des Heiliggeistkrankenhauses in Feldern. Einige weitere Meldungen betrafen den Tod eines kleinen Jungen aus dem Landkreis, der eine Operation unter Thomas Regler nicht überlebt hatte. Das Kind hatte bei einem Routineeingriff einen allergischen Schock erlitten, die Eltern gaben dem zuständigen Arzt die Schuld, eine Untersuchung wurde anberaumt und ein Provinzblättchen machte daraus die saftige Schlagzeile: »War es Pfusch?« Regler mußte unter enormem Druck gestanden haben, als ihm auch noch die Frau weglief. Das könnte eine Kurzschlußreaktion erklären.
Andererseits… Sie überflog noch einmal den ersten Eintrag über den Tod des kleinen Jungen im Krankenhaus. Man hatte ein Interview mit den Eltern abgedruckt. Die Eltern von David Ferber stießen wüste Drohungen gegen Regler aus, diktierten den Journalisten etwas von »Vergeltung« in den Notizblock, von »Blut gegen Blut«. Karen rechnete daraufhin mit einer Art stolzem Beduinenpaar, aber das Foto zeigte Sonja und Berti Ferber als brave, urdeutsch aussehende Mittelhessen.
Hatte der Mörder von Michael Hansen vielleicht Thomas Regler gemeint? War er umgekommen, weil man ihn aufgrund der Anwesenheit von Krista für Thomas Regler hielt?
Unsinn, dachte sie. Warum hätte Krista Regler dann gestanden?
Weil sie glaubte, ihr Mann habe Hansen umgebracht. Weil sie ihren Mann schützen wollte, der wiederum glaubte, sie schützen zu müssen, schon weil er sich schuldig fühlte am Tod des kleinen
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