Schneesterben
hier ist nicht Falkenburg, sagte er. Und du sitzt nicht als Kindesmörder ein. Für den Tod des kleinen David kannst du nichts. Und was das andere betrifft – du bist noch nicht einmal verurteilt. Du hast in aller Naivität den Mord an einem Mann gestanden, den du nie gesehen hast. Aus Liebe. Und aus Schuldgefühlen. Also reiß dich zusammen, sonst überlebst du das nicht.
Aber es gab noch diese andere Stimme, eine jämmerliche, kleine, zaghafte Stimme. Ein Stimmchen.
Still, sagte sein Verstand. Sie wissen nichts von damals und von Falkenburg und von Hanni.
Bist du sicher? greinte das Stimmchen. Thomas rappelte sich vom Boden auf und schlurfte zu seiner Pritsche. Bist du wirklich sicher, daß niemand etwas ahnt?
Nein, dachte er. Ich bin nicht sicher. Es ist einer unterwegs, einer, der es auf mich abgesehen hat.
Einer, der etwas weiß.
29
Frankfurt am Main
I m Dorf wird das Kind zuletzt gegen Mittag gesehen. Der Junge ist oft ohne seine Mutter unterwegs, man mißbilligt das, aber man kennt das schon. Stunden später erscheint die Mutter des kleinen Martin bei den Nachbarn und fragt nach dem Kind. Am späten Abend ruft der Besitzer des örtlichen Wirtshauses die Polizei. Man beginnt sofort mit der Suche. In den frühen Morgenstunden findet man den Kleinen. Er sitzt vor neun heruntergebrannten Kerzen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Auf die Wangen hat man ihm mit roter Farbe Kreuze gemalt. Er trägt Brandmale an den Händen. In der Stirn ist ein Loch.
Karen legte die Akte beiseite, stand auf und ging hinüber zum Waschkabinett. Ihr war übel und schwindelig, und sie hätte sich am liebsten nach Hause und ins Bett verkrochen. Einen Fall wie diesen hatte sie glücklicherweise noch nie auf dem Schreibtisch gehabt. Die Obduktion des sechsjährigen Martin Brandt am 17. August 1979 ergab: Die Handgelenke des Kindes waren gebrochen. Die rechte Niere gequetscht. Der Schädel eingeschlagen.
Die Hose hatte man ihm heruntergezogen. Tief im Anus steckte eine Kerze.
Der Stein, der das Cranium durchbohrte und zum Tode führte, war ein zerbrochener Backstein gewesen. Ein roter Ziegelstein. Ein Klinker.
Karen setzte sich wieder an den Schreibtisch. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was hatte der eine mit dem anderen Fall zu tun – außer, daß hier wie dort ein Stein von weitverbreiteter Machart als Tatwerkzeug eine Rolle spielte? Carstens hatte sie auf eine falsche Fährte gelockt. Das brachte sie nicht weiter.
Sie griff nach der Akte. Der ermittelnde Staatsanwalt von 1979 hieß Karlheinz Stockmann. Der Name sagte ihr nichts. Warum auch? Der Mann war entweder längst pensioniert oder…
Oder es gab ihn noch. Karen griff zum Hörer, wählte die Zentrale und ließ sich die Personalabteilung geben. Karlheinz Stockmann war tatsächlich vor zwei Monaten pensioniert worden. Er hatte zuletzt in der Abteilung XIX, Umweltsachen, gearbeitet. Als sie dort anrief, wollte das Sekretariat sie abblitzen lassen.
»Es wäre schön, wenn Sie eine laufende Ermittlung unterstützen statt behindern könnten.« Karen wußte, wie schneidend sie klang, wenn sie leise und langsam sprach.
»Aber ich kenne Sie doch gar nicht!« protestierte eine trotzige Frauenstimme.
»Wollen Sie mich vielleicht kennenlernen?« Schließlich gab die Frau nach. Es war schließlich kein Geheimnis, was Stockmann vorhatte, er hatte allen Kollegen davon erzählt: Er wollte mit seiner Frau eine »Studienreise« unternehmen, die ihn ein halbes Jahr zu antiken Stätten in der Türkei und Ägypten führen sollte. Danach wollte er ein Geschichtsstudium beginnen.
Was für ein sympathischer Plan, dachte Karen resigniert.
Sie blätterte vor. Beide Täter waren zum Zeitpunkt der Tat gerade mal eben strafmündig gewesen. Man hatte sie wahrscheinlich kurz nach der Volljährigkeit wieder ins Leben in Freiheit entlassen. Gegen diese Aussichten hatte der Vater des toten Kindes protestiert, seine Frau war vor Gericht zusammengebrochen und hatte später, vor Journalisten, Rache geschworen.
Für die Eltern des Opfers gab es keine Sühne. Für sie gab es keine angemessene Strafe für die Tat außer der einen.
Karen blätterte weiter. Die Eltern des einen der beiden Täter hatten die Gegend offenbar noch vor dem Richterspruch verlassen. Auch sie würden ewig mit der Tat leben müssen.
Und die beiden Jungen.
Karen sah auf die Uhr. Ihr Kopf schmerzte. Sie mußte zur Verhandlung. Und ihr Hirn wollte nicht verstehen, was der Fall von 1979 mit dem Drama der Reglers zu
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