Schneesterben
die Vernunft. Aber er sah die dunklen blauen Augen unter dem dichten Haar blitzen, sah, wie sich die Nase bewegte, sah einen Mann, dem jedes Kind traute. Einen, der seine Frau so sehr geliebt haben mußte, daß er alles für sie tat.
Auch lügen, um sie vor dem Gefängnis zu retten? Der Gedanke war unerbeten. Aber Krista war ihm plötzlich unheimlich.
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Frankfurt
M an mußte die Obduktion abwarten. Und die Ermittlungsergebnisse der Kripo. Karen Stark hoffte, man hatte Krista Regler den Tod ihres Mannes schonend beigebracht. Sie glaubte immer noch, daß die Frau bitter darunter litt, daß ihr Mann für sie gebüßt hatte. ›Solch’ Liebe währet ewiglich.‹ Aber wahrscheinlich war das Wunschdenken. Romantisches, kindisches Wunschdenken.
Sie spürte eine Rührung die Kehle hochsteigen, die sie schon gestern nur mühsam hatte bekämpfen können. Mürbe und weich wie ein Buttermilchbrötchen, dachte sie. Ein freundliches Wort, und sie würde Rotz und Wasser heulen.
Sie richtete sich auf und legte die gelbe Laufmappe aus der Geschäftsstelle beiseite. Auch andere Angehörige mußten benachrichtigt werden. Hatte Regler noch Eltern? In seinem Alter bestimmt. Dann stapelte sie die Akte mit dem Zeichen 7360JS25489/03 auf den Haufen zur Wiedervorlage.
Während der Konferenz war sie abgelenkt. »Müssen wir uns wieder Sorgen um Sie machen, Frau Kollegin?« Zacharias wedelte vorwurfsvoll mit dem Montblanc.
»Soll ich den Arzt holen?« fragte H2O, der das wohl komisch fand. Sie lächelte beide an und sagte nichts.
Gunter hatte ihr eine E-Mail geschickt, um sich »zurückzumelden«. Das beschäftigte sie mehr als alles, was in diesem Raum verhandelt wurde.
Als sie zurück in ihr Büro kam, hockte schon wieder ein Stapel Drucksachen auf dem Schreibtisch. Sie pflügte den Haufen um und verteilte alles in die jeweils dafür vorgesehenen Ecken. Nur einen Aktendeckel nahm sie aus, den, auf den jemand vom Archiv geschrieben hatte: »Könnte dich interessieren. Appendix zum Fall Martin Brandt.« Sie schlug die Akte auf.
Der Vater des einen der beiden Täter, Walter v. Braun, hatte eine Klage gegen die Schule im allgemeinen und speziell gegen eine Lehrerin seines Sohnes angestrengt. Begründung: Durch den Gemeinschaftskundeunterricht seien die beiden Jungen viel zu früh mit den Greueln des Nationalsozialismus in Kontakt gekommen, hätten sich daran womöglich ein Beispiel genommen und ein Menschenexperiment angestellt, dessen Opfer Martin Brandt wurde. Der Vater behauptete die Mitschuld von Schule und Lehrerin, wenn nicht gar die Anstiftung zu einer Straftat.
Karen durchblätterte die Akte. An der Aussage der Lehrerin blieb ihr Blick hängen.
»Es war ein heißer Tag, einer der wenigen heißen Tage im Sommer 1979. In der 6a waren die Kinder besonders unruhig, irgend jemand hatte verbreitet, es gäbe hitzefrei, aber dazu hätte es noch heißer sein müssen. In meiner Unterrichtseinheit ging es um ›Geschichte und Brauchtum in Hessen‹. Eigentlich machte den Kindern das Thema Spaß. In der Stunde davor hatten wir hessische Spezialitäten durchgenommen, da gab es für jeden was zu essen. Aber diesmal waren die alten Trachten dran. Ich konnte die Unruhe der Kinder verstehen – mir wurde auch ganz heiß beim Anblick der Bilder mit Frauen in schwarzen Gewändern und bebänderten Hauben.«
Karen hatte das Gefühl, Karla Becker zu kennen. Solche wie sie waren in ihrer Schulzeit die Guten unter den Lehrern gewesen. So gut, daß sie einen zur Weißglut reizten.
»Ich fürchte, ich war ein bißchen froh, daß Johannes und Peter fehlten. Sie waren die Ältesten in der Klasse, und es klappte noch nicht so ganz mit der Einbindung in den Klassenverband, sie mußten ja das Schuljahr wiederholen. Beide neigten zum Rebellieren – Johannes mehr noch als Peter – und hätten es wahrscheinlich verstanden, die Unruhe der Kinder anzustacheln. Ich habe mir keine großen Gedanken gemacht, wo sie wohl sein könnten, das muß ich selbstkritisch zugeben.«
Die Lehrerin hatte Schuldgefühle. Natürlich.
»Die beiden fehlten oft. Eigentlich kamen sie aus vernünftigen Verhältnissen – nein, aus guten Verhältnissen, muß man sagen, wenn man sich anguckt, wie es bei manchen der anderen Kinder zu Hause aussieht. Andererseits – wenn man Außenseiter ist… Bei Johannes lag das Problem offen zutage, er befand sich in diesem Stadium, in dem besonders Jungen schwierig sind.«
Vornehm ausgedrückt, dachte Karen. In der Pubertät sind nicht nur
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