Schneesterben
geschleudert hatte. Von nassen kleinen Leichnamen am Rande der gluckernden Wassergräben rechts und links der Straße. Von Tierfängern mit großen Keschern. Sogar dem Bussard, der über dem Auenwäldchen kreiste, warf er einen bösen Blick zu. Noch war Birdie leichte Beute für einen hungrigen Greifvogel.
Er wurde immer trauriger, je länger er über die feuchte Wiese lief. Es gab zuviel Unglück neuerdings. Die Nachricht vom Tod Thomas Reglers hatte alle erschüttert, sogar die jungen Frauen, die ihn noch vor einigen Monaten für einen gemeingefährlichen Pfuscher gehalten hatten. Aber Krista hatte nur den Kopf geschüttelt, als er sie nach Regler fragte. Sie hatte überhaupt wenig gesagt, nachdem sie zurückgekommen war aus dem Tunnel. Er wollte schon gehen. Sie brachte ihn zur Haustür. Da erst fing sie an zu weinen. Als sie den toten Vogel sah. Eine junge Amsel, die mit ausgebreiteten Flügeln auf der Fußmatte lag – wie eine besonders einfallsreiche Schaufensterdekoration.
Er hatte sie in den Arm genommen, war mit ihr zurückgegangen in die Küche und hatte gewartet, bis ihr Schluchzen leiser wurde. Und dann erzählte sie, warum sie im Tunnel Kerzen angezündet hatte. Für Thomas. Und für den kleinen Jungen, der dort vor fast fünfundzwanzig Jahren gestorben war.
Die Geschichte saß ihm wie ein Stein in der Brust.
Krista hatte eine große Kanne Tee gekocht und hockte am Küchentisch, das Gesicht blaß, die feine Haut unter den müden blauen Augen dunkel.
»Ich muß immer an das Kind denken«, hatte sie unvermittelt gesagt. Und dann erzählte sie.
Der Kleine war an einem heißen Augusttag umgekommen. Man hatte ihn entführt, ihn in den Tunnel geschleppt, ihn dort mit einer Eisenstange geschlagen, ihn mit glühenden Zigaretten gequält, ihm die Handgelenke gebrochen.
»Und zum Schluß haben sie ihm den Schädel eingeschlagen. Als man ihn fand, war er umgeben von den Überresten weißer Kerzen. Sie müssen ihn im Kerzenschein getötet haben.«
»Woher weißt du das alles? Von Gottfried?« Aber der hatte sich, was den Tunnel betraf, als gar nicht auskunftsfreudig erwiesen.
Krista schwieg. Ihr Zeigefinger tauchte in den verschütteten Tee auf der Tischplatte und zeichnete Figuren auf das helle Holz.
»Der kleine Martin muß auf die Gedenktafel, findest du nicht?«
Bremer hatte sich dabei ertappt, wie er erst den Kopf schüttelte und dann nickte. Das also war gemeint, wenn die Nachbarn die Erinnerung an alles anmahnten, nicht nur an die eine tragische Geschichte, auch an die anderen vielen scheinbar kleineren Dramen, die sich im Tunnel abgespielt hatten, einem Ort, wie geschaffen für Schmerz und Tod. Plötzlich fühlte er mit dem zahnlosen Marius, der den Unheilsort auf immer versperren wollte.
»Ist der Mörder gefunden worden?«
» Die Mörder«, hatte Krista ruhig gesagt. »Es waren zwei Jungen aus der Umgebung.«
Da erst hatte er begriffen, was sie alle schweigen ließ. Das war das Schlimmste, was den Menschen auf dem Land widerfahren konnte. Er hatte längst verstanden, daß es nicht Fremdenhaß allein war, wenn man immer erst nach der verhängnisvollen Anwesenheit von Fremden fahndete, sobald etwas schieflief. Es war die Hoffnung, daß der Nachbarschaft die Zerreißprobe erspart bleibt, vor der sie anderenfalls steht. Ein Opfer, zwei Täter – drei Familien. Danach war nichts mehr wie zuvor.
»Woher weißt du das alles?«
Sie zögerte. Dann sagte sie: »Von Thomas, er hat mir die Geschichte erzählt.« Sie war aufgestanden und zum Fenster gegangen. »Er hat Kinder immer geliebt, weißt du.«
Seltsamerweise hatte er das Gefühl gehabt, daß sie nicht wirklich die Wahrheit sagte.
Er durchquerte die Flußaue und ging den Friedhofsweg hoch, an Kristas Haus vorbei, vorbei an der Weide, auf der Willis Galloways standen, hinüber zur Scheune. Hier war Nemax oft, denn die Reste von Getreide und Mais, die im Herbst von den Erntewagen fielen, nährten ein reichliches Mäuseaufkommen. Es nieselte wieder, der Juni begann feucht und es wurde langsam wieder kälter.
»Nemax?« Er hatte das starke Gefühl, vergeblich zu rufen. Er hätte am liebsten geweint, wie Krista beim Anblick der Amsel. Um die Katzen, das Kind, sich selbst. Um sein Fahrrad. Und um Thomas Regler, dessen Gesicht er plötzlich vor sich sah, diesmal nicht verschlossen, sondern lächelnd. Was für ein brutales, einsames Sterben, dachte Bremer. Von allen verlassen, auch von seiner Frau.
Der Mann hat seinen Rivalen erschlagen, sagte ihm
Weitere Kostenlose Bücher