Schneesterben
hätten ihn küssen können dafür.
Er hatte Angst. Vor etwas, wovor sie sich ebenfalls fürchtete. Vor der Verwechslung des Berufs mit dem Leben.
Vielleicht trennt uns unser Job ja wirklich vom Rest der Menschheit, dachte sie. Sie hatte zu oft erlebt, wie Bekannte von Bekannten die Haltung wechselten, wenn sie als Staatsanwältin vorgestellt wurde. Manche verstummten, andere wurden merklich kühler. Als ob es etwas Unanständiges wäre, Recht und Gesetz zu vertreten. Mit einem Anwalt konnten alle etwas anfangen, vor allem mit einem Strafverteidiger. Den fanden sie prima. Dabei waren längst nicht alle der insgesamt zweifellos unverzichtbaren Organe der Rechtspflege so wie Edith Manning, die ihren Beruf bitter ernst nahm. Und mit der sie die tiefe Abneigung gegen sogenannte »Staranwälte« teilte, denen es keineswegs darum ging, einem armen, vom Staat verfolgten Wesen zu seinem Recht zu verhelfen oder gar um so etwas wie die Wahrheitsfindung. Die suchten reklameträchtigen Ruhm.
Karen dachte an Gotzki, den überaus renommierten Strafverteidiger mit den schmalen Lippen. Solche Leute brachten es fertig, einen eindeutigen Fall an Verfahrensfehlern scheitern zu lassen, obwohl sie wußten, daß ihr Mandant ein Verbrecher ist. Macht nichts, daß der nun ungestört weitermachen durfte. Hauptsache, sie haben einen Prozeß gewonnen.
Staatsanwälte sind die Vertreter der Opfer. Unparteiisch, wenn alles gutgeht. An der Wahrheitsfindung orientiert, nicht an der eigenen Karriere.
Also die wahren Freunde der Menschheit auf der Achse des Guten? hörte sie die ironische Stimme Paul Bremers. Selbstlos und niemals karrieregeil?
So war es natürlich nicht. Aber wenn sie an Fälle wie die des kleinen Martin dachte – oder an den Tod der drei Putzfrauen vor dem Fitneßstudio… Da war sie doch entschieden lieber Vertreterin der Anklagebehörde als Verteidigerin.
Gunter seufzte tief auf und drehte sich auf die andere Seite. Sie legte ihm die Hand in den Nacken. Er hat es schwerer, dachte sie. Bei uns sind die Toten in der Minderzahl. Aber Gunter? Sicher, er gab auch Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit von Promilletätern ab. Aber auf unserem Tisch liegt höchstens eine Akte. Was auf seinem Tisch landet, hat mal geatmet.
»Du bist voller Leben«, hatte er gesagt. »Und ich habe viel zuviel Totes unter den Fingern.«
Als sie nach seiner Hand greifen wollte, hatte er sie erst weggezogen – und sie ihr dann mit verlegenem Lächeln wieder überlassen. Ja, manchmal habe ich das gespürt, hatte sie gedacht. Habe das Skalpell in deinen Händen gesehen und geglaubt, diesen Geruch in der Nase zu haben, den Geruch von totem Fleisch und Konservierungsmittel. Und war – nicht abgestoßen. Aber unangenehm berührt. Als ob es sie noch gäbe, die heilige Scheu, den toten Körper anzutasten, der lange Zeit die Sektion als obszön erscheinen ließ und die Obduzierenden als gottlose Menschen, ohne Gefühl und Pietät – heute, wo Obduktionen zum Öffentlichkeitsspektakel gemacht und präparierte Skelette wie auf dem Jahrmarkt vorgeführt werden.
Sie nahm einen Schluck aus dem Glas und rutschte tiefer ins Kissen. Es ist bloß ein Ausschnitt des Lebens, den wir sehen, Gunter und ich. Die Welt besteht nicht aus der Aktenlage und auch nicht aus verstümmelten Unfallopfern und geschändeten Kinderleichen. Fast hätte sie ihn aufgeweckt und ihm das alles als Mantra vorgebetet: Laß die Toten nicht dein Leben bestimmen. Die Alten, die im Altersheim an Vernachlässigung sterben, sind ganz und gar in der Minderheit. Weniger und weniger Menschen sterben bei schweren Verkehrsunfällen. Mißbrauchte und getötete Kinder erschüttern uns zutiefst, aber es stimmt nicht, daß »unsere Kinder nicht mehr sicher sind«. Denk an das Leben und laß den Toten Gerechtigkeit widerfahren. Dazu sind wir da, du und ich. Manchmal jedenfalls.
Karen leerte ihr Glas und stellte es auf den Nachttisch. Es war zwei Uhr. Sie mußten morgen beide früh aufstehen. Und dann stand noch die Beerdigung an. Thomas Regler wurde begraben, und sie hatte sich von Edith Manning breitschlagen lassen, mitzugehen. »Mal gucken, wie Krista Regler aussieht am Grab«, hatte Edith gesagt, die alte Zynikerin.
Aber warum sollte es nicht auch zu ihrem Job gehören, den Toten die letzte Ehre zu erweisen, wenn es schon mit der Gerechtigkeit nicht geklappt hatte? Sie warf einen letzten Blick auf Gunter. Dann löschte sie das Licht. Und flüsterte ihm zu: »Laß die Toten nicht dein Leben
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