Schneestille
Windschutzscheibe zu fegen und das Glas freizukratzen. Jake steuerte das Auto vom Parkplatz der Polizeiwache auf die Straße. Dort hupte er ein paarmal; eigentlich erwartete er jeden Moment, eine Hand am Hemdkragen zu spüren, die ihn unsanft aus dem Wagen zerrte, aber sollten die Polizisten zurückkommen und feststellen, dass ihr Auto geklaut wurde, könnte er wenigstens behaupten, es sei wohl kaum in einer heimlichen Nacht-und Nebel-Aktion passiert.
Langsam fuhr er am Supermarkt vorbei. Das Gewicht des schweren Geländewagens zu steuern war ungewohnt für ihn. Um den Ort auf dem Weg zu verlassen, den sie vom Flughafen hereingekommen waren, mussten sie an ihrem Hotel vorbei. Zoe wollte dort anhalten und ihre Sachen holen; Jake war dagegen, weil der Schnee inzwischen noch dichter fiel und die Nebeldecke zusehends undurchdringlicher wurde. Die Sichtweite lag bei unter zwanzig Metern.
»Wir brauchen unsere Pässe, Schatz, und wir haben ein paar Sachen im Hotel, die ich nicht so einfach hierlassen will. Ich bitte dich, Jake. Bloß zwei Minuten.«
»Wenn wir am Ende tot sind wegen deiner zwei Minuten, dann drehe ich dir den Hals um.«
»Von mir aus.«
Also hielten sie vor dem verlassenen Hotel. Jake ließ den Motor laufen, und sie stiegen aus. Der Qualm bauschte sich in der eisigen Luft zu dicken Schwaden. Schweigend fuhren sie mit dem Aufzug in die dritte Etage. Im Zimmer angekommen warfen sie die Koffer auf das Bett, machten sie auf, schmissen achtlos alles hinein und ließen dann die Deckel zuschnappen. Danach schleppten sie die Koffer nach unten und hinaus zum Wagen, wo sie das Gepäck auf dem Rücksitz verstauten.
Jake knurrte. Der Nebel war dichter geworden. Er war noch immer bleigrau, und es schien ihm, als leuchtete er dort, wo das elektrische Licht darauffiel und schimmernd zurückgeworfen wurde, irisierend: Unter anderen Umständen wäre es sicher ein wunderschöner Anblick gewesen. Und auch der Schneefall hatte kein bisschen nachgelassen. Die Flocken fielen wie dicke, weiche Gänsedaunen. Als Skifahrer hätte dieser Schnee sie in Entzücken versetzt, aber augenblicklich war es wirklich das Letzte, was sie brauchten.
Die Sichtweite lag inzwischen bei unter zehn Metern. Er konnte gerade eben die Umrisse der Häuser auf der anderen Straßenseite gegenüber vom Hotel ausmachen. Und schlimmer noch, es war bereits später Nachmittag. Selbst ohne den Schnee wurde es langsam dunkel. Nicht gerade die besten Voraussetzungen zum Autofahren. Sie mussten dringend aufbrechen, wenn sie noch irgendwo ankommen wollten, ehe es stockduster wurde; und doch spürte Jake die entsetzliche Angst im Nacken, womöglich die große Lawine auszulösen, wenn sie schneller als Schrittgeschwindigkeit fuhren.
Also tuckerten sie im Schneckentempo los. Riesenhafte Schneeflocken ließen sich auf der Windschutzscheibe nieder, während das Auto sich über die schmale Bergstraße mühte. Dann rumpelte er über irgendwas auf der Straße.
»Was war das?«
»Keine Ahnung. Ich glaube, ich bin gegen den Bordstein gefahren.«
»Halt dich bloß vom Bordstein fern. Am besten fährst du mitten auf der Straße.«
»Mensch, auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen! Danke für diesen wohldurchdachten Hinweis. Ich versuche die ganze Zeit, in der Straßenmitte zu fahren.«
Doch sehr bald rammte er wieder den Bordstein. Es war ein Ding der Unmöglichkeit. Er beklagte sich, im Dämmerlicht kaum etwas sehen zu können. Kurz überlegten sie, wieder umzukehren, waren sich aber einig, dass sie unbedingt weiterfahren sollten. Einen halben Kilometer weiter rumpelte der Wagen plötzlich, ruckelte heftig und wankte bedenklich. Sie waren über die Begrenzung geholpert.
Jake machte eine Vollbremsung. Das Auto schlitterte und kam schlingernd zum Stehen. Bei laufendem Motor sprang Jake aus dem Wagen, aber weil er den Boden unter sich nicht sehen konnte, fiel er tiefer als erwartet und verknackste sich den Knöchel.
»Vorsicht beim Aussteigen!«, rief er Zoe zu.
Sie stieg aus und ging um das Auto herum zu ihm. Auf der Fahrerseite hing der Vorderreifen in der leeren Luft. Die anderen drei Räder standen fest auf dem felsigen, verschneiten Boden. Jake spähte hinunter, aber er konnte einfach nicht erkennen, ob es unter dem Reifen auf der Fahrerseite nur einen Meter nach unten ging oder hundert. Der weiße Schleier des Nichtwissens durchfuhr ihn wie eine Klinge.
»Kannst du rückwärts rausfahren?«, wollte Zoe wissen.
»Vielleicht ginge das, aber ich will
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