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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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es in diesem Nebel nicht riskieren weiterzufahren.«
    »Was? Wir müssen weiter, Jake!«
    Worauf er auf das in der Luft hängende Rad des Wagens deutete. »Weißt du, wie’s da weitergeht? Ich nicht. Wir können nicht weiterfahren. Ich weiß noch, wie wir mit dem Bus hergekommen sind: Bei den meisten Bergstraßen geht es gleich hinter dem Bordstein steil bergab. Da ist keine Leitplanke, die einen auf der Straße hält, Zoe! Wenn man vom Weg abkommt, ist man weg vom Fenster.«
    »Dann müssen wir eben laufen.«
    »Okay. Dann laufen wir.«
    Zoe kannte Jake gut genug, dass sie das unausgesprochene aber in diesem Satz hörte. »Aber …«, half sie ihm auf die Sprünge.
    »Aber ich gebe Folgendes zu bedenken: Wir würden in die anbrechende Dunkelheit und Temperaturen unter null hineinwandern. Vermutlich würden wir es schaffen, auf dem Weg zu bleiben, wenn wir gut aufpassen. Aber bis zum nächsten Dorf sind es zwanzig Kilometer. Wir haben den ganzen Tag noch nichts gegessen, und mir ist jetzt schon eiskalt. Und nicht nur, dass wir hier in den Bergen erfrieren und verhungern könnten, nein, es besteht auch noch die durchaus realistische Chance, dass uns eine Lawine von der Straße fegt. Ich weiß zwar, dass wir im Hotel auch nicht sicher sind. Aber es ist ein massives Betongebäude, und da drinnen sind wir ganz bestimmt sicherer als hier draußen.«
    »Himmelherrgott!«
    »Du weißt, dass ich recht habe.«
    »Und willst du zurückfahren?«
    Misstrauisch betrachtete er das überhängende Rad. »Nein. Ich schätze, das sollten wir uns morgen früh anschauen, wenn es aufgehört hat zu schneien und wir sehen können, was Sache ist. Weit sind wir nicht gekommen. In zwanzig Minuten sind wir wieder am Hotel. Höchstens eine halbe Stunde.«
    Sie widersprach nicht. Also schaltete er den Motor aus, stieg wieder aus und öffnete dann die hinteren Türen. Schnell stopften sie einige unentbehrliche Dinge in eine kleine Tasche und ließen den Rest im Wagen, dann marschierten sie los in Richtung Hotel.
    »Das ist mal echt ein toller Urlaub«, murmelte Jake.
    »Toller Urlaub.«
    »Ich kann gerade noch so meine Hand vor Augen sehen. Nein, das stimmt gar nicht. Dein Gesicht kann ich sehen. Es leuchtet.«
    »Ob du’s glaubst oder nicht, ich schwitze.«
    Und sie konnte sein Gesicht auch sehen, das durch den fallenden Schnee und den sich herabsenkenden grauen Dunst hindurchschimmerte, als sei es von hinten beleuchtet. In diesem seltsamen Licht sah seine Haut aus wie Pergament, dachte sie, uraltes heiliges Schriftrollenpergament, und seine funkelnden blauen Augen und die haselnussbraunen Augenbrauen und der Hauch blutroter Farbe auf den Lippen sahen aus wie von einem Mönch gemalte Illustrationen einer antiken Handschrift.
    »Was guckst du so?«
    »Ich schaue dich an. Ich liebe dich.«
    Er lachte. »Wie kommst du denn jetzt darauf? Ich habe eine Irre geheiratet, die mich in Lawinen schleppt.«
    »Die ganze Situation ist irre, und ich sehe nichts als dein irres Gesicht, und ich bin froh, dass es da ist. Sehr, sehr froh.«
    »Komm her. Gib mir deine Hand. Wir gehen zurück zum Hotel.«

3
    An der Wand gleich in der Nähe der Hotelrezeption hing ein Schwarzes Brett mit Angeboten für Tagesausflüge, Rodeln, Fahrten mit dem Pferdeschlitten und Fondue-Abende. Außerdem standen dort die Telefonnummern sämtlicher Reiseveranstalter, die im Ort vertreten waren. Und mit Reißzwecken befestigt war dort eine Liste mit Ärzten, Tierärzten, Apotheken und sämtlichen anderen Notfalladressen im näheren Umkreis von Saint-Bernard. Jake riss die Liste vom Brett. Dann gingen sie hoch auf ihr Zimmer, und Jake fing an, die Liste abzutelefonieren.
    Ein kräftiger, klarer, kehliger Klingelton tutete aus der Leitung. Einen nach dem anderen rief er sämtliche Reiseveranstalter an und bekam nirgendwo eine Antwort. Er versuchte es auf der Polizeiwache, wo sie das Auto geklaut hatten. Nirgendwo ging irgendwer dran.
    »Versuch’s mal mit jemandem in England«, schlug Zoe vor. »Ruf deine Mutter an.«
    Zoes Eltern waren beide tot. Ihre Mutter war gestorben, lange bevor Jake und Zoe sich kennengelernt hatten, aber ihren Vater Archie hatte Jake noch kennengelernt, ehe er ein paar Jahre später ebenfalls gestorben war. Jakes Vater war einige Jahre nach der Scheidung von seiner Mutter verstorben, sodass diese nun ihr einziger verbliebener Elternteil war. Sie war eine etwas gluckenhafte, aber sehr nette Frau mit schrecklicher lila Löckchenfrisur, die kurz nach ihrer eher

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