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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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Strecke hinunter und biegen dann in den Wald ab. Irgendwann müssten wir dann automatisch auf diesen gewundenen Weg treffen – vermutlich ein Holzfällerweg –, der durch den Wald führt, und wenn wir dem folgen, kommen wir in den nächsten Ort. Um Straßenverkehr brauchen wir uns folglich keine Sorgen zu machen.«
    Jake schob sich die Halteschlaufe seines Skistocks über das Handgelenk.
    »Warte«, meinte Zoe. »Schau dir das mal kurz an, Jake. Viele Leute würden ein Vermögen dafür bezahlen, hier im jungfräulichen Neuschnee zu stehen, in dem noch kein Mensch herumgestiefelt ist. Das ist eigentlich unbezahlbar. So was kann man nicht kaufen. Schau mal, ist das nicht wunderschön?«
    Jake schnaubte. Da versuchten sie doch eigentlich gerade, lebend und mit heiler Haut aus dieser Sache rauszukommen – aber wo sie recht hatte, hatte sie recht. Nirgendwo in dem federleichten Pulverschnee waren Spuren zu sehen. Über ihnen hingen schwere graue Wolken, aber dazwischen blitzten ein paar blaue Streifen Himmel durch. Eine Kraft, die magisch alles verwandelte, hatte die Landschaft mit einem Atemhauch verzaubert, und sie beide saßen obendrauf wie ein Marzipanbrautpaar auf einer Hochzeitstorte.
    »Küss mich«, sagte Zoe.
    Seine Lippen waren kalt, und sie wollte sie mit ihrem Kuss zum Schmelzen bringen. Sie wollte sich gar nicht mehr von ihm lösen, aber irgendwann trat Jake einen Schritt zurück. Blinzelnd schaute sie ihn an. Einen Moment glaubte sie, im Schwarz seiner Pupillen eine seltsame Spiegelung zu sehen.
    »Was ist?«
    »Nichts. Komm. Es ist zwar eine schwarze Piste, aber sie sieht nicht allzu steil aus«, meinte sie. »Du musst bloß darauf achten, dass du die Ausfahrt nicht verpasst.«
    »Hört sich ganz danach an, als würde ich dir mal wieder folgen sollen. Du Rechthaberin.«
    Und dann stürzten sie sich den Hang hinunter. Der Schnee auf der unpräparierten Piste war dick und verkrustet, aber es war keine echte Herausforderung für ihr Können. Ihre Skier glitten etwas langsamer als sonst über den Schnee, aber die weiße Pracht teilte sich mit einem weichen, sinnlichen Wispern unter ihren Füßen. Auf der menschenleeren Piste konnten sie weite, spielerisch ausladende Schwünge fahren und vollkommen parallele Spuren im Schnee hinter sich herziehen. Wenige Minuten später hatten sie bereits die Hälfte der Piste hinter sich. Zoe hatte am Rand angehalten.
    Elegant kam Jake neben ihr zum Stehen.
    »Hat’s Spaß gemacht?«, fragte sie.
    »O ja.«
    »Bis jetzt war’s kinderleicht. Jetzt müssen wir da durch.«
    Eine Lichtung zwischen den Bäumen am Rand der Piste führte in dichteren Wald und zu einem steil abfallenden Hang.
    Die Spitzen scharfkantiger Kalksteinfelsen ragten aus dem Schnee. Zwar waren beide versierte Skiläufer, aber mit Tiefschnee und Freeriden abseits der ausgewiesenen Pisten hatten sie kaum Erfahrung. Es sollte also etwas ganz Neues für sie werden.
    Weil sie ihm die Nervosität an der Nasenspitze ansehen konnte, meinte Zoe: »Wir fahren, wo immer es geht; wo es nicht geht, machen wir kleine Schritte oder ziehen die Ski aus und laufen, wenn’s sein muss. Wollen wir?«
    Seine Antwort wartete sie nicht mehr ab. Kurz entschlossen richtete sie die Skier auf die Bäume und glitt in den Schlund des dunklen Waldes.
    Zehn Minuten später steckten sie schon knietief in Schwierigkeiten. Das Terrain war steil und uneben. Zerklüftete Felsnasen bernsteinfarbenen Gesteins ragten in unregelmäßigen Abständen wie Reißzähne aus dem Schnee; die Nadelbäume verbargen ihre Wurzeln unter einem trügerisch glatten weißen Teppich und griffen auf Schulterhöhe mit kräftigen tief hängenden Zweigen nach ihnen. Sich den Weg zwischen den Stämmen hindurchzubahnen, war mühsam und schwierig. Erschwert wurde ihr Vorankommen durch halb gefrorene Schmelzwasserrinnsale, die vom Berg hinunterliefen. Manche dieser Bächlein lagen unter Schneebrücken versteckt; andere plätscherten durch das verschneite Gelände und waren zu breit, um sie einfach zu überspringen. Viel Zeit ging dabei verloren, diese Rinnsale zu überqueren oder ihnen auszuweichen, und manchmal mussten sie wieder ein Stückchen bergan gehen, wenn es ein Ding der Unmöglichkeit war, mit den Skiern einfach steil der Falllinie zu folgen.
    Zoe stürzte gleich zu Anfang und prallte mit dem Arm gegen einen Felsen. Jake fiel ebenfalls zweimal auf den Rücken, als seine Skier sich in Luftwurzeln oder anderen versteckten Fallstricken unter dem Schnee verfingen.

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