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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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an. Er sah die Straße entlang und beäugte mit zusammengekniffenen Augen die Kirche vor ihnen. Dann warf er einen Blick zurück und betrachtete die Straße, auf der sie gekommen waren. Er verrenkte den Hals in alle Himmelrichtungen. Schließlich warf er Ski und Stöcke mit lautem Scheppern hin und lief los, in den schweren Skistiefel, den Hügel hinauf zur Kirche.
    Zoe hatte recht. Es war dieselbe Kirche. Dasselbe Hotel. Dieselben Häuser und Straßen. Derselbe Supermarkt und gleich daneben die Polizeiwache.
    Sie waren im Kreis gelaufen.
    Jake riss sich die Wollmütze vom Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch die verschwitzen Haare. Dann ging er zurück zu Zoe. Sie hockte, die behandschuhten Fäuste unter der Nase, auf dem Boden und schaute ihn an. »Wie?«, wollte er wissen.
    »Das ist unmöglich.«
    »Wir müssen irgendwo falsch abgebogen sein.« Sosehr er sich bemühte, man hörte den Vorwurf in seiner Stimme heraus. Schließlich hatte sie die Richtung vorgegeben.
    »Das ist einfach unmöglich.«
    »Natürlich ist das nicht unmöglich. Wir haben doch gerade bewiesen, dass es möglich ist. Wir sind schließlich hier. Wir sind der lebende Beweis.«
    »Nein, du irrst dich. Wir sind den Berg hoch und auf der Seite wieder runter.«
    »Dann muss es einen Pass geben! Sicher windet sich ein Pass durch den Berg und führt bis hierher. Und wir sind versehentlich dem Pass gefolgt.«
    »Es tut mir leid, Jake! Es tut mir wirklich leid!«
    Er sah sie an, als sei er stinksauer und wolle sie anraunzen, konnte es aber nicht. Schließlich hatte er sie gebeten vorzugehen. Er selbst hatte überhaupt keinen Orientierungssinn, und darum war er froh gewesen, als sie die Führung übernommen hatte.
    »Verdaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamt! Das ist doch ein Witz! Ich komme mir vor, als würde sich jemand gerade auf meine Kosten kaputtlachen.«
    »Jake!«
    Sie folgten der Straße, gelangten auf die andere Seite des Orts und kamen an genau derselben Stelle raus wie am Vortag, als sie versucht hatten, das Dorf zu Fuß zu verlassen. Wieder mussten sie die Kirche passieren. Jake nahm den Kompass aus der Tasche und warf ihn frustriert in Richtung des silbergrauen Kirchturms.
    »Lass das.«
    »Wo willst du hin?«
    Zoe marschierte zur Kirchentür und drückte sie auf. Typisch katholisch wirkte das Gebäude wie eine Grotte voller Schatten und Echos und Bilder der Qual und Pein, nur gemildert durch die Wandnischen, in denen zahllose Kerzen brannten. Jake folgte ihr. Ihre Schritte hallten laut auf den Steinplatten. Die Luft in der Kirche war kühl. Sie konnten ihren Atem sehen.
    »Es kommt mir fast vor, als wollte irgendwas uns hier festhalten«, meinte Zoe, während sie sich umsah und zur Decke schaute. »Als wolle es uns nicht gehen lassen.«
    »Das Gefühl hatte ich auch schon. Nicht erst seit heute. Ich wollte bloß nichts sagen.« Jake ließ den Blick über die gewölbte Kirchendecke schweifen, über die Mauern und Türen, als suche er nach einem Wegweiser hinaus, einem Hinweis, aber da war nichts. Eine Weile starrte er schweigend die gleichmäßig brennenden Kerzen an.
    »Komm.«
    Jake wirkte erschöpft, weshalb Zoe ihn zurück zum Hotel dirigierte und ihm auf der Stelle ein heißes Bad einließ. Sie machte sich auf die Suche nach der Rumpelkammer der Zimmermädchen, die sie plünderte, und kam mit Badeschaum und frischen Handtüchern zurück. Sie wusste, dass er es für seine Pflicht als Mann hielt, sie heil hier rauszuholen, und daran scheiterte; auch wenn sie kein kleines Weibchen war, das so etwas brauchte; auch wenn sie die Last der Verantwortung genauso spürte wie er. Das war eine seiner Schwächen, etwas, das sein Vater ihm eingebläut hatte; es hatte mit Kontrolle und Verantwortung zu tun. Ein Beschützerinstinkt, den sie ihm aber leicht nachsehen konnte. Doch die Natur schien sich nicht an die Regeln zu halten, und das machte ihm zu schaffen.
    Nachdem er gebadet hatte, half sie ihm dabei, sich abzutrocknen, und schickte ihn dann energisch ins Bett. Minuten später war er eingeschlafen.
    Sie saß da und schaute ihm beim Schlafen zu. Es war unmöglich, Jake nicht zu lieben. Er sprühte nur so vor Feuer und Kampfgeist und Güte, und doch war er so verletzlich, wenn er müde war. Sie waren seit über zehn Jahren zusammen, und in dieser langen Zeit war die Flamme ihrer Liebe zu ihm nie erloschen. Dieses Bild erschien ihr abgedroschen und banal und doch sehr wahr. Sie war darauf gekommen, als sie die Kerzen in der Kirche von Saint-Bernard so

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