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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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munter hatte brennen sehen.
    Irgendwas an der Kirche, und insbesondere an den Kerzen, störte sie ungemein.
    Sie fragte sich, wer wohl die Kerzen in der Kirche angezündet hatte.
    Obwohl sie eigentlich keine Ahnung hatte, nahm sie an, dass Kerzen – selbst qualitativ hochwertige Kirchenkerzen – keine Brenndauer von mehreren Tagen hatten. Darum ging sie davon aus, dass jemand sich darum kümmerte; dass ein Ministrant oder vielleicht der Küster dahintersteckte.
    Sie warf einen Blick auf Jake, lauschte auf seinen Atem, vergewisserte sich, dass er tief und fest schlief. Dann schlüpfte sie aus dem Zimmer und schloss die Tür mit einem leisen Klick hinter sich. Mit dem Aufzug fuhr sie hinunter ins Foyer und ging von dort ins Restaurant.
    Schnurstracks steuerte sie auf den Tisch zu, an dem sie am Abend zuvor gesessen und Champagner getrunken hatten. Die Teller und Gläser und die Reste ihres Abendessens standen noch genauso da, wie sie sie stehen gelassen hatten, als Zoe ihren Mann übermütig ins Bett gezerrt hatte. Und mitten auf dem Tisch stand eine Kerze – eine Kerze, die sie selbst angezündet hatte. Munter brennend.
    Immer noch.
    Sie wusste noch ganz genau, wie sie die Kerze angezündet hatte. Es war eine ganz neue Kerze gewesen, mit einem schneeweißen makellosen Docht. Was bedeutete, dass sie den ganzen Abend gebrannt hatte und die ganze Nacht und auch den ganzen Tag, während sie unterwegs gewesen waren. Bloß war sie nicht heruntergebrannt. Nicht einen Zentimeter. Nicht mal einen halben Zentimeter. Es war auch kein Wachs von der Flamme heruntergetropft. Sie sah aus, als sei sie gerade erst entzündet worden.
    Sie blies die Kerze aus, und die Flamme erlosch mit dem Duft nach heißem Wachs und einem kleinen grauen Rauchkringel, der sich in der Luft kräuselte. Dann zündete sie die Kerze wieder an, und die Flamme brannte hell auf.
    Vom Speiseraum ging sie in die Küche. Manche der ungespülten Töpfe und Pfannen von Jakes Koch-Eskapaden des Vorabends lagen noch achtlos verstreut herum. Und auf der anderen Seite der Küche, auf der sauberen Arbeitsplatte, lagen noch immer unangetastet das Fleisch und das klein geschnittene Gemüse und warteten schon seit dem Nachmittag nach der Lawine, als sie das erste Mal hier hereingekommen waren, darauf, endlich verarbeitet zu werden.
    Sie nahm alles ganz genau unter die Lupe. Die rosigen Fleischstreifen, durchzogen von zarten Marmorfäden weißen Fetts, schimmerten feucht, als seien sie gerade erst geschnitten worden. Seltsamerweise kam es ihr fast vor, als lebten sie schon seit Wochen an diesem Ort, dabei waren sie gerade mal seit drei Tagen da. Was allerdings auch bedeutete, dass Fleisch und Gemüse seit nunmehr fünfzig oder sechzig Stunden in der warmen Küche auf der Arbeitsfläche lagen. Sie nahm einen der Fleischstreifen und schnupperte vorsichtig daran. Er roch ganz frisch. Probeweise biss sie in eine Karottenscheibe. Hielt sich ein Stückchen Sellerie unter die Nase. Alles roch wie frisch aus dem Garten, ganz köstlich. Nicht das kleinste bisschen welk. Sie brach den Stangensellerie durch, der mit einem Knacken nachgab.
    Kerzen, die nicht herunterbrannten. Fleisch, das nicht verdarb. Gemüse, das nicht welkte. Lange starrte sie das Fleisch auf der Arbeitsplatte an.
    Von hinten fasste sie eine Hand an der Schulter. Entsetzt schrie sie auf.
    Es war Jake. Er trug einen Bademantel.
    »Tu das nie wieder!«
    »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, meinte er. »Die Kerzen. Das Essen. Ich habe mir das gestern Abend angeschaut. Ich wollte bloß nichts sagen.«
    »Aber was hat denn das alles zu bedeuten?«
    Jake wandte sich ab und suchte in einem Haufen Küchenutensilien nach etwas. Schließlich fand er ein scharfes Messer. Er wedelte mit dem Messer vor ihrer Nase herum und krempelte sich dann den Ärmel hoch.
    »Was hast du vor, Jake?«
    Ohne den Blick von ihr zu wenden, schnitt er sich in den Unterarm und schlitzte ihn einige Zentimeter weit auf. Haut und Muskeln klafften auseinander, und er zuckte vor Schmerz zusammen. Aber es blutete nicht. Kein einziger Tropfen Blut floss.
    »Jake! Hör auf damit!«
    Er setzte abermals an und schnitt sich leicht in den Ringfinger der linken Hand. Wieder zuckte er zusammen, als die Klinge die Haut aufritzte, aber auch hier floss kein Blut, nicht mal ein winziges Tröpfchen. Er legte das Messer beiseite und zog den Ärmel wieder herunter. »Gestern Abend habe ich mich beim Kochen und Rumkaspern geschnitten. Richtig tief. Aber es

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