Schneestille
Handbremse an, sprang aus dem Wagen und ging zu ihr. Um sie herum wirbelten Schneeflocken, legten sich auf ihre Mütze und den Schal, und sie stand mitten auf der Straße und rieb sich die aufgeschürften Knie. »Und jetzt?«
Mit dem Rücken zur Straße, die vom Dorf herführte, stand er an der Kreuzung und schaute nach Osten und nach Westen. Diesmal konnten sie wenigstens den Weg erkennen. Die Chancen standen also nicht schlecht, zumindest auf der Straße zu bleiben und nicht den Abhang hinunterzufallen. Blieb nur die Frage, welche Richtung sie einschlagen sollten. Er nahm den Kompass heraus, hockte sich hin und legte ihn auf den Boden. Nur um ihn wenige Augenblicke später sanft wieder in der Tasche zu verstauen. »Müll!«, schimpfte er leise. Er hatte ein rotes Gesicht.
Zoes Herz krampfte sich zusammen, so leid tat er ihr mit seinem nutzlosen Kompass. »Sag du.«
»Nein«, entgegnete er. »Du hast einen viel besseren Orientierungssinn. War schon immer so.«
»Gut. Aber ich will nichts hören, falls ich mich irre, okay? Ich würde sagen … da lang.«
Sie hakten sich unter und marschierten beherzt los. Den liegen gebliebenen Polizeiwagen würdigten sie keines Blickes mehr. Sie ließen ihn einfach mitten auf der Straße quer stehen, mit sperrangelweit offener Fahrertür. Es sah aus wie nach einem Überfall.
Eine gute Stunde später waren sie wieder in Saint-Bernard. Der altbekannte Kirchturm ließ schon lange, ehe sie das Ortszentrum erreicht hatten, keinen Zweifel mehr aufkommen.
»Tut mir leid«, meinte Zoe, während sie noch auf das Dorf zuliefen.
»Nein«, meinte er, »braucht es nicht. Ich wäre auch in die Richtung gegangen.«
Bald hatte Zoe eine neue Idee ausgebrütet. »Komm mit.«
»Mir deucht, immer wenn ich diese Worte höre, stecken wir am Ende wieder in irgendeinem Schlamassel.«
Sie ignorierte diesen Einwurf und führte ihn zurück zum Hotel und dann in den kleinen Skiladen: Dort dirigierte sie ihn zu einem der mit Fichtenbrettern verkleideten Umkleideräume mit einer riesigen Landkarte hinter einer Plexiglas-Scheibe, auf der alle Pisten verzeichnet waren. Darauf war auch das Örtchen Saint-Bernard zu sehen, wie es in das Tal geduckt dalag, sowie die Pisten, die das Dorf nördlich und südlich des Tals flankierten. Der Südhang war nicht so beliebt, weil der Schnee dort in der Sonne schnell zu tauen begann, aber nach den Schneefällen der letzten Tage müssten sämtliche Pisten eigentlich in hervorragendem Zustand sein. Zoes Plan sah vor, sich Skier zu besorgten, den Südhang des Tals zu besteigen und dann auf der anderen Seite zum Nachbarort abzufahren.
Sie zeigte ihm alles auf der Karte. »Man kann mit Sesselliften bis ganz nach oben fahren. Wir wissen, dass der Strom noch angeschaltet ist, also können wir mit dem Lift hinauffahren. Auf der anderen Seite gibt es mindestens eine ausgewiesene, gekennzeichnete Abfahrt mit einem großen Schlepplift, der einen nach oben bringt. Wir sind hier etwa auf neunzehnhundert Metern, stimmt’s? Der andere Ferienort liegt auf etwa sechzehnhundert Metern und nur ein paar Kilometer entfernt auf der anderen Bergseite. Nach der gekennzeichneten Abfahrt gibt es keine ausgewiesenen Pisten mehr, aber wir können einfach langsam weiterfahren. Der Schnee ist prima.«
Jake atmete aus. »Das übersteigt womöglich unsere Fähigkeiten. Du hast doch keine Ahnung, wie das Gelände da ist. Felsen. Bäume. Tiefschnee. Du weißt nicht, wie steil das Gefälle ist. Du weißt eigentlich gar nichts.«
»Du bist ein guter Skiläufer. Ich bin eine gute Skiläuferin.«
»Warum versuchen wir nicht noch mal, zu Fuß aus dem Tal rauszuwandern? Den Bergpass entlang. Das ist viel einfacher.«
»Ja, ginge auch. Aber – und das ist ein großes Aber – du hast selbst gesagt, das wäre ein vier-bis fünfstündiger Marsch. Wir sind zu spät dran, nach allem, was heute passiert ist. Wir würden in die Dunkelheit hineinwandern. Wenn wir zu Fuß gehen wollen, müssten wir noch eine Nacht hierbleiben und morgen in aller Frühe aufbrechen. Oder wir schnappen uns ein paar Skier, zuckeln gemütlich den Berg hinauf und fahren dann zu dem Ort auf sechzehnhundert Metern ab. Dafür brauchen wir, wie lange, zwanzig Minuten vielleicht?«
»Zwanzig Minuten? Nie im Leben.«
»Eine halbe Stunde, mehr nicht, um so eine Strecke auf Skiern zurückzulegen. Mehr nicht. Eine halbe Stunde, Jake.«
»Ich weiß nicht. Mir gefällt das nicht. Meinst du wirklich, es ist noch lange genug
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