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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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obwohl er zugab, sein ganzes Leben lang vorgegeben zu haben, das zu wissen, was man nicht wissen konnte, und getan hatte, als könne er gegen den Mann mit der Kapuze gewinnen.
    »Den Mann mit der Kapuze?«
    »Der, der uns alle sieht.«
    »Du meinst den Tod? Meinst du den?«
    Wenn Jake recht hatte, dachte Zoe, und wenn sie bei dem Lawinenunglück gestorben waren, dann irrten sämtliche Weltreligionen. So viel stand schon mal fest. Das Gotteshaus hinter ihnen war eine leere Hülle, bevölkert von flackernden Hoffnungsschimmern, mehr nicht. Blieb nur noch eine Frage: Was sollten sie jetzt tun? Was sollten sie bloß tun?
    »Sag mal«, meinte er. »Ist dir irgendwann mal kalt gewesen? Seitdem, meine ich. Seit der Lawine?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Ob du es glaubst oder nicht, das war erst vor drei Tagen, nein … vor vier Tagen.«
    »Wirklich. Kommt mir … viel länger vor. Viel länger.«
    »Als sei es Wochen her, ja. Ist es aber nicht. Und was ich damit sagen will: War dir hier irgendwann schon mal richtig kalt? Sieh mal, wir sitzen schon seit einer Stunde hier. Und mir ist überhaupt nicht kalt.«
    »Zieh die Klamotten aus«, sagte sie. »Dann wird dir ganz schnell kalt.«
    Und das tat er dann auch. Er schlüpfte aus der Skijacke und streifte sich den Pullover über den Kopf. Dann zog er Stiefel und Skihose aus, und am Ende stieg er aus der Thermounterwäsche und den dicken Socken. Nackt setzte er sich mit blankem Hinterteil auf die verschneite Stufe.
    Sie schaute ihn an, wartete ab. Er wich ihrem Blick nicht aus.
    Ich sage kein Wort , dachte sie. Wenn er Spielchen spielen will …
    Doch etliche Minuten vergingen. Zehn vielleicht, vielleicht auch fünfzehn. Nein, vielleicht auch zwanzig.
    »Gib es zu«, meinte sie schließlich. »Du frierst dir den Hintern ab.«
    Doch er schüttelte nur den Kopf.
    Zoe stand auf, streifte die Jacke ab und machte den Gürtel auf. Sie zog sich nackt aus und setzte sich mit dem blanken Po neben ihn in den eisigen Schnee. Sie hakte sich bei ihm unter und lehnte den Kopf an seine Schulter. »Weißt du, auch wenn wir keine Kleider brauchen, werde ich jetzt nicht nackt rumlaufen.«
    »Ich auch nicht.«
    »Vielleicht, wenn wir auf einer einsamen Tropeninsel gestrandet wären.«
    »Sind wir aber nicht.«
    »Meinst du, alle Leute bleiben hinterher da, wo sie gestorben sind? Ich meine, wenn man im Ersten Weltkrieg in einem Schützengraben gestorben ist, ist man dann dazu verdammt, in alle Ewigkeiten dort zu bleiben?«
    »Wer sagt denn, dass wir für alle Ewigkeiten hierbleiben?«, fragte er. »Mein Hintern müsste eigentlich schon blau sein. Ich spürte die Kälte überhaupt nicht. Weißt du noch, wie sich das angefühlt hat?«
    Zoe dachte angestrengt nach. »Erinnere mich daran.«
    Und Jake sagte: »Es war, als würde man sich mit einem Hammer auf den Finger hauen. Es war, wie sich zu verbrennen. Es war wie ein Mund, der an einem saugt und beim Saugen sticht. Es war wie ein Messer, das sich an einem wetzt; sich wetzt, um dich besser schneiden zu können.«
    Sie krümmte sich. »Lieber Himmel, ich friere gleich fest! Guck mal – ich zittere am ganzen Leib!« Und damit sprang sie auf und fing an, wieder in ihre Kleider zu steigen. Sie klapperte mit den Zähnen. »Ich weiß nicht, ob es mir gerade wieder eingefallen ist oder ob ich es wirklich gespürt habe, aber ich ziehe mich jetzt an. Ist dir nicht kalt?«
    Er zuckte die Achseln. »Ich ziehe mich auch an. Wollen wir zum Hotel zurückgehen?«
    Zoe glaubte fast zu erfrieren, während sie darauf wartete, dass Jake sich wieder anzog. Und während die Wintersonne hinter den Bergen versank und ihre Schatten vor ihnen im weißen Schnee immer länger wurden, gingen sie gemeinsam zurück. Als sie an ein paar Geschäften vorbeikamen, löste Zoe sich von ihm. »Ich komme gleich nach. Ich will nur schnell was holen.«
    »Ich komme mit.«
    »Ist schon okay. Ich bin gleich wieder da.«
    »Dann warte ich.«
    »Jake, hast du solche Angst, dass wir uns verlieren? Ich will doch bloß ein paar Sachen besorgen.«
    »Was denn für Sachen?«
    »Augentropfen aus der Apotheke, solche Sachen. Ich bin in zwei Minuten wieder da!«
    Also ging er kopfschüttelnd weiter.
    Zoe öffnete die Tür zur Apotheke. Das Licht brannte, so wie vorher auch. Sie wusste, wo die Augentropfen standen, weil sie die schon am ersten Tag hier besorgt hatte. Aber deswegen war sie nicht hier. Sie suchte etwas anderes.
    »Ich bin nicht tot«, murmelte sie, während sie an den Regalen entlangging.

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