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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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die erste Vermutung zutraf, sollte sie es Jake dann sagen? Und wenn das zweite zutraf, was dann? Wenn sie für alle Ewigkeiten hier festsaßen, vielleicht wäre sie dann auch für alle Ewigkeiten schwanger, ohne das Kind jemals auszutragen.
    Sie hörte, wie die Zimmertür auf-und wieder zuging und Jake ins Zimmer kam. Sie zog die Hose hoch und versteckte den Schwangerschaftstest umständlich ganz unten im Mülleimer. Als sie schließlich herauskam, lehnte Jake mit verschränkten Armen an der Wand und schaute sie durchdringend an.
    »Wann hast du das letzte Mal ein Ei gelegt?«
    »Was?«
    »Wann? Ich hab nämlich seit der Lawine nicht mehr gemusst, bis gerade eben. Und der Drang kam erst, als du erwähntest, du hättest Hunger. Ich musste dran denken, und dann bekam ich auch Hunger. Wobei mir wieder einfiel, dass ich schon lange kein Ei mehr gelegt hatte, und dann musste ich plötzlich.«
    »Jake, meinst du, wir sitzen hier fest? Oder sind wir hier freigelassen worden?«
    »Du musst nur lange genug dran denken, dann musst du auch.«
    »Könntest du jetzt bitte mit dem Eierlegen aufhören?«
    »Ich meine ja bloß.«
    »Das ist eine wichtige Frage – ob wir hier festsitzen oder ob es ein Geschenk ist, hier sein zu dürfen. Das würde doch unsere Auffassung diesem Aufenthalt gegenüber ganz entscheidend beeinflussen, oder meinst nicht?«
    »Wir reden aneinander vorbei, was? Diskutieren auf verschiedenen Ebenen.«
    »Könnte man wohl so sagen.«
    »Eierlegen ist ein sehr wichtiges Thema.«
    »Verdammt! Dann war ich eben seit der Lawine noch nicht. Liegt vermutlich an meinem Trauma. Weißt du? Eine Nachwirkung des Erlebten. Und jetzt, wo ich so darüber nachdenke, muss ich auch.«
    »Genau das meinte ich«, sagte er.
    Sie drehte sich auf dem Absatz um, verschwand wieder ins Badezimmer und knallte ihm die Tür vor der Nase zu.
    »Es ist immer gut«, rief Jake ihr durch die geschlossene Tür hinterher, »in Ruhe ein Ei zu legen.«
    »Halt die Klappe!«
    Jake ging weg von der Tür. »Es ist immer gut, in Ruhe ein Ei zu legen«, murmelte er leise.
     
    Mitten in der Nacht wurde sie wach, weil eine helle weiße Lichtscheibe knapp über ihrem Gesicht in der Luft schwebte. Deutlich hörbar flüsterte jemand ihren Namen: »Zoe! Zoe! Geh ins Licht! Komm in das Licht!«
    Zoe setzte sich im Bett auf und schaute durch die gespreizten Finger nach der Lichtquelle. »Weißt du was?«, meinte sie. »Selbst als Toter kannst du manchmal wirklich ein Vollpfosten sein.«
    Jake knipste die Lampe aus, die er ein paar Zentimeter vor Zoes Gesicht gehalten hatte, und stellte sie zurück auf das Nachttischchen. »Ich konnte nicht schlafen. Ich musste die ganze Zeit über unsere verzwickte Lage nachdenken.«
    Ein schmaler Lichtstreifen fiel durch die geschlossenen Vorhänge. Zoe stand auf und zog den Vorhang zurück, und mit einem Mal war das ganze Zimmer in traumschönes Mondlicht getaucht. Draußen spiegelte es sich glitzernd im Schnee. Alles war klar und deutlich zu erkennen. »Schenk uns beiden doch einen Cognac ein. Wir sollten uns unterhalten.«
    Jake goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei Bechergläser und reichte eins davon an Zoe weiter. Dann nippte er an seinem Glas und lächelte.
    »Ich muss dich was fragen«, sagte sie. »Ich habe dich das gestern schon mal gefragt, aber ich möchte, dass du erst ganz genau nachdenkst, ehe du darauf antwortest.«
    »Schieß los.« Er nahm noch ein Schlückchen. »Weißt du was? Der Cognac schmeckt gar nicht nach Cognac.«
    »Ich hab dich gefragt, ob du glaubst, dass wir hier festsitzen, oder ob es ein Geschenk ist, hier sein zu dürfen. Sollten wir zu dem Schluss kommen, dass wir hier festsitzen, dann wäre unsere Situation tragisch. Sollten wir es aber so sehen, dass es ein großes Glück ist, hier sein zu dürfen, dann wäre es genau das Gegenteil.«
    »Komisch?«
    »Komisch ist nicht das Gegenteil von tragisch.«
    »Nein.«
    »Was ich damit sagen will, ist, wenn wir uns für die richtige Sichtweise entscheiden, könnte es wirklich traumhaft schön und wunderbar sein. Du und ich. Zusammen allein. Wir haben’s warm, ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, die besten Weine und die tollsten Skipisten. Es ist wie im Paradies. Wenn wir es denn als solches akzeptieren. Wenn wir es so nennen wollen.«
    »Stimmt wohl.«
    »Stimmt wohl?«
    »Na ja, ja. Womöglich hast du recht.«
    Sie hörte den unterschwelligen Schatten in seinen Worten. »Aber. Da ist doch irgendwo ein Aber, oder? Irgendwo ist

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