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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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immer ein Aber.«
    »Nein, du hast recht. Wir können hier zusammen frei sein, hierbleiben, wie die Kinder im Schnee herumtollen, und sämtliche Grundbedürfnisse sind mehr als gedeckt.«
    »Aber. Sag mir dein Aber.«
    »Okay. Es ist folgendermaßen. Obwohl es hier offensichtlich keine Vergänglichkeit gibt, obwohl Fleisch frisch bleibt und Kerzen nicht herunterbrennen, vergeht auf einer anderen Ebene sehr wohl Zeit. Die Sonne geht auf und unter. Wir schlafen, wir pinkeln, wir legen Eier. Es gibt Energie, denn das Licht brennt, und die Skilifte laufen. Und Energie, die verbraucht wird, ist ein Ereignis. Und jedes Ereignis geht zwangsläufig irgendwann zu Ende.«
    »Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«
    »Ich denke schon eine ganze Weile darüber nach. In sämtlichen Geschichten und Legenden den Tod betreffend kommt immer jemand, der einen abholt. Du weißt schon, dein verstorbener Onkel Derek im OP-Hemd, der dir sagt, du sollst ins Licht gehen. Der Teufel, der die armen Seelen in sein Höllenfeuer schaufelt. Charon, mit dem man über den Styx setzt. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich das Gefühl, dass jemand oder etwas … hierherkommt.«
    »Hierherkommt?«
    »Ja … hierherkommt. Um uns zu holen.«
    Zoe lief es eiskalt den Rücken herunter. »Ich wünschte, das hättest du nicht gesagt.«
    Er ging zum Fenster und schaute auf den glitzernden mondbeschienenen Schnee. »Ich auch. Ich wünschte auch, ich hätte das nicht gesagt. Aber … das ist mein Aber an der ganzen Sache. Ich spüre es. Ich spüre, dass etwas kommt.«
    »Du glaubst doch den ganzen Mist gar nicht! Charon, der Teufel, Onkel Derek! Vielleicht ist das hier das Jenseits für Atheisten. Du bist doch durch und durch Atheist, genau wie ich.«
    »Das stimmt. Und daran hat sich auch nichts geändert. Ich habe bloß das Gefühl, jemand oder etwas ist auf dem Weg hierher.« Er trank sein Glas aus. »Nach was schmeckt der Cognac für dich?«
     
    Sie gingen raus Skilaufen. Zoe sagte, sie sei zum Skilaufen hergekommen, und jetzt wolle sie auch Skilaufen, also machten sie sich auf den Weg. Sie fragte ihn, ob sie vielleicht dieselbe Strecke nehmen könnten, auf der sie nach der Lawine versucht hatten, das Dorf zu verlassen. Jake wusste, dass sie wieder versuchen wollte, durch die Bäume einen Weg hinauszufinden, sagte aber nichts. Er schien sich damit abgefunden haben, sie machen zu lassen, als wisse er ohnehin, wie das ausgehen würde. Es war vollkommen egal, ob sie es versuchten oder nicht.
    Der Sessellift auf der Südseite des Tals lief immer noch ununterbrochen, seit sie ihn angeschaltet hatten. Der Motor gab ein beständiges Summen von sich, und die ganze Maschinerie ratterte, während die leeren Sitze unten schwungvoll im Kreis herumgeführt und dann wieder auf ihren vergeblichen Weg nach oben geschickt wurden. Auf der anderen Seite kehrten sie geordnet in Reih und Glied zurück und sahen irgendwie aus, als seien sie durchs Feuer gegangen oder hätten einen Krieg überlebt oder sonst ein schlimmes Ereignis, das sie dennoch stoisch und ungerührt zurückkehren ließ. Auch wenn es bloß leere Sitze waren, so hatte diese endlose Wiederholung ihres an die Stahlseile gebundenen Daseins etwas schrecklich Sinnloses. Als hätten sie die Möglichkeit gehabt, etwas zu lernen, und hätten versagt.
    Gemeinsam ließen sie sich auf einen Sitz plumpsen. Jake legte den Arm um Zoe, worauf sie sich an ihn kuschelte, während sie über die Baumwipfel hinausgetragen wurden. Sie sah, wie er die weiße Wildnis unter ihnen genauestens beobachtete.
    »Was suchst du?«, wollte sie wissen.
    »Spuren.«
    »Was denn für Spuren?«
    »Von irgendeinem lebenden Wesen. Fuchs. Hase. Gemse. Marder. Irgendwas. Von mir aus auch Vogelspuren.« Er beugte sich über den Sitz und ließ den Blick über den unberührten Schnee zwischen den Bäumen schweifen. »Seit dem Tag der Lawine habe ich kein einziges lebendes Wesen mehr gesehen.«
    »Ich schon.«
    »Ach, wirklich?«
    »Zwei Krähen.«
    »Wirklich?«
    »Aber nur einmal.« Sie schwieg wieder und dachte an die Krähen. Man hörte nur das Surren des Drahtseils und das Klappern der Sitze, wenn sie über einen der Pfeiler ratterten, begleitet vom regelmäßigen Klatschen des Seils, das wie große ledrige Flügel klang. Dann war es wieder still, und nur das Heulen des Windes um die straff gespannten Seile war zu hören.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie.
    »Was?«
    »Die Krähen.«
    »Weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob es etwas

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