Schneestille
»Ich bin nicht tot.«
»Was möchtest du heute Abend essen?«, fragte Jake, als sie ins Hotel kam. »Was essen Tote so?«
»Lass das.«
»Na ja, irgendwas müssen wir essen.«
»Wirklich? Hast du denn Hunger? Warst du in den vergangenen Tagen irgendwann mal hungrig? Oder essen wir bloß aus Gewohnheit?«
Jake machte den Mund auf, um darauf zu antworten, klappte ihn aber wieder zu. Er musste erst mal darüber nachdenken. Sie drängelte sich an ihm vorbei, um ins Badezimmer zu gehen, und machte die Tür hinter sich zu.
Drinnen öffnete sie die kleine Schachtel und nahm das Plastikstäbchen aus der verschweißten Folie. Dann ließ sie die Hose runter, zog den Slip herunter und hielt sich das Stäbchen zwischen die Beine, während sie versuchte, auf einen saugfähigen Streifen von einem halben mal drei Zentimetern zu pinkeln, ohne ihre eigene Hand zu treffen. Zuerst konnte sie gar nicht pinkeln. Es war fast, als hätte sie vergessen, wie das ging. Und dann konnte sie gar nicht mehr aufhören. Aber schließlich hatte sie länger als die erforderlichen fünf Sekunden auf das Stäbchen uriniert. Sie setzte die Kappe auf den Stift, hockte sich auf den Klodeckel und wartete.
Ungefähr eine Minute später klopfte Jake energisch an die Tür.
»Kann man hier nicht mal in Ruhe aufs Klo gehen, Jake!«
Sie hörte ihn grummeln.
»Himmelherrgott, da ist ein ganzes Stockwerk mit leeren Zimmern, und in jedem davon gibt’s ein leeres Badezimmer. Also verschwinde und such dir dein eigenes Klo.«
Wieder hörte sie Gegrummel, und dann öffnete und schloss sich die Zimmertür zum Gang.
Als sie schließlich das Stäbchen begutachtete, waren klar und deutlich zwei blaue Streifen zu sehen. Keine Frage, sie war immer noch schwanger.
Jake wusste nichts davon. Das war die Millionen-Dollar-Frage, die sie ihm die ganze Zeit schon stellen wollte; sie wartete nur auf den richtigen Augenblick. Der Augenblick, an dem die Sterne ihr hold waren.
Solange sie zusammen waren, hatte keiner von ihnen ein gesteigertes Verlangen nach eigenen Kindern gehabt. Aber dann hatten ihre diesbezüglichen Gefühle sich langsam, aber sicher verändert. Die Sache war die: Eigentlich wünschte sie sich, Jake ginge es genauso; dass seine Gefühle sich mit ihren veränderten, sich anglichen, vermischten, ineinandergriffen; und doch hielt sie das für eher unwahrscheinlich. Ein, zwei Mal hatten sie darüber geredet, und die Frage hatte sich schließlich mehr oder weniger erledigt. Es gab kein eindeutiges Nein. Es lag aber auch kein Ja in der Luft.
Mit einer Mischung aus Neid, Misstrauen und Entsetzen hatten sie zugesehen, wie immer mehr ihrer Freunde Eltern wurden. Sie hatten zugesehen, wie sich deren Leben schlagartig für immer veränderte, zum Guten wie zum Schlechten. In einigen Fällen erwies sich das Elternwerden als ein berauschendes, erhebendes Erlebnis, und die frischgebackenen Eltern schwebten im siebten Himmel; in anderen Fällen wurde daraus schnell ein chaotischer Absturz ins Desaster mit anschließender Scheidung. Für manche schien die Erfahrung, Vater oder Mutter zu werden, ein unerschöpflicher Quell der Kraft und Freunde; andere mutierten zu erschöpften willenlosen Zombies, die diese Umstellung in Depressionen und einen dauerhaften Zustand geistiger Abwesenheit verfallen ließ. Es schien einfach keine Regeln zu geben, wie ein derart einschneidendes Erlebnis sich auf das Leben eines Menschen auswirkte.
Doch als sie dann kurz vor ihrem Skiurlaub unerwartet schwanger geworden war, hatte Zoe sofort gewusst, dass sie das Baby wollte. Bloß gehörte sie nicht zu den Frauen, die einen Mann, der sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, Vater zu werden, gegen seinen Willen dazu zwingen wollte. Also hatte sie sich überlegt, einen magischen Moment abzupassen, vielleicht hoch oben auf dem Berg oder während eines frühabendlichen Spaziergangs im jungfräulichen Schnee, während es um sie herum gerade dämmerte; und wenn die Sterne günstig standen, wollte sie ihm die sensationelle Neuigkeit enthüllen.
Und dann war die Lawine gekommen.
Und jetzt war sie, auch wenn sich jede Sehne und jeder Nerv in ihrem Körper dieser Annahme widersetzte, tot.
Tot und schwanger.
Was natürlich die Frage nach dem Wesen ihrer Schwangerschaft aufwarf. War es eine Schwangerschaft, die sich wie der Lauf der Sonne am Himmel veränderte; oder blieb sie statisch, wie ein gefrorener Embryo in ihrem Leib, wie die Kerzenflamme, die nie das Wachs verzehrte? Wenn
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