Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce

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hat nicht geblutet. Ich wollte dir lieber nichts sagen. Himmel. Ich liebe dich, Zoe.«
    Sein Blick verschleierte sich.
    Sie schaute ihn an, blinzelte. »Ich liebe dich auch, Jake. Bitte sag mir, was hier los ist.«
    »Weißt du denn nicht, was das bedeutet?«
    »Nein! Bitte sag es mir! Und bitte hör auf, dich selbst zu verletzten, mein Liebster!«
    »Es bedeutet, dass wir beide tot sind«, meinte Jake.

6
    Es hatte aufgehört zu schneien. Die dicken grauen Wolken zogen weiter, und die Sonne erschien am eisblauen Himmel. Der Schnee reflektierte die Sonnenstrahlen, die stachen wie Lanzen, und so mussten sie den ganzen Tag Sonnenbrillen tragen. Gute Sonnenbrillen, teure; sie brauchten bloß in eins der Geschäfte zu gehen und sich die allerbeste Designersonnenbrille auszusuchen, die der Laden zu bieten hatte.
    Natürlich hatte Zoe sich nicht gleich mit dem Gedanken abfinden können, dass sie bei der Lawine ums Leben gekommen waren. Das zu schlucken hatte sich als etwas schwieriger erwiesen.
    Denn wie sollte man sich mit so etwas abfinden? Aber als Jake diese Tatsache einmal laut ausgesprochen und selbst die Logik der ganzen Sache akzeptiert und offen darüber gesprochen hatte, hatte sich das Wetter entsprechend verändert. Nun war es nicht mehr nötig, so schien es, die Welt in einen gespenstischen Schleier aus Schnee zu hüllen, und schon breitete sich die beste aller möglichen Welten vor ihnen aus.
    Natürlich wies Zoe den Gedanken zunächst weit von sich. Sie beharrte darauf, dass sie erneut versuchten, das Dorf zu verlassen, diesmal auf den freien Straßen. Jake widersprach nicht und äußerte lediglich, das werde ohnehin nichts bringen. Und er sollte recht behalten: Selbst an klaren Tagen, an denen sie zielstrebig in eine Richtung marschierten, führten die Wege sie unerklärlicherweise immer wieder zurück nach Saint-Bernard-en-Haut. Sie stiegen in den Polizeiwagen, und es gelang ihnen sogar, ihn zu starten; aber ganz gleich, welchen Weg sie auch einschlugen, immer war es, als böge eine große sanfte Hand die Straße zu einer Schleife und führte sie wieder an ihren Ausgangspunkt zurück.
    »Wie kann das denn sein?«, hatte sie geschimpft. »Wie kann so was bitte sein?«
    Worauf Jake bloß mit den graublauen Augen geblinzelt hatte. »Das habe ich dir doch erklärt. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
    Vier Tage ging das so. Es war unmöglich; es konnte gar nicht sein; es ergab alles keinen Sinn; es war wider die Natur. Aber es war so. Und in dieser ganzen Zeit brannten die Kerzen nicht herunter, zeigten Fleisch und Gemüse auf der Arbeitsfläche keinerlei Anzeichen von Verwesung oder Verwelken, und kein Blut floss.
    Während Zoe sich sträubte und räsonierte, kämpfte und die unheimliche und unbestreitbare Logik immer wieder überprüfte, wollte ihr Herz doch nichts davon wissen.
    »Ich kann nicht tot sein. Ich spüre Schmerz. Ich spüre Freude.«
    »Ich weiß. Ich weiß …«
    »Ich weiß, dass ich dich liebe. Das kann doch nicht der Tod sein, oder?«
    »Ich sage ja nicht, dass ich es verstehe.«
    »Das hier ist nicht die Hölle. Und es ist auch nicht wie im Himmel, weil ich dauernd befürchte, dass uns eine Lawine auf den Kopf fällt.«
    »Die Lawine ist uns längst auf den Kopf gefallen, mein Liebling. Du willst es bloß nicht akzeptieren. Wir sind in der Lawine gestorben.«
    »Nein, ich meine das ganz große Ding. Da oben ist eine große Lawine, und die wartet nur darauf, endlich abzugehen. Das spüre ich. Ich spüre die Spannung in der Luft. Vielleicht lässt die Sonne den Schnee schmelzen, und dann kommt sie hier runtergedonnert. Meinst du, das ist bei allen so?«
    Sie saßen zusammen auf den unter einem Schneeteppich verborgenen Stufen der Dorfkirche, verwirrt, erschöpft und durcheinander angesichts ihrer eigenartigen neuen Existenz.
    Jake zog die Sonnenbrille aus und rieb sich die blutunterlaufenen Augen. Zoe bombardierte ihn unablässig mit Fragen, als wüsste er die Antworten darauf, als hätte er auch nur den leisesten Schimmer, wie die Antworten lauteten. Wenn dies das Leben nach dem Tod war, würde es dann ewig dauern? Konnte man im Tod noch sterben? Warum verging die Zeit, wie man an Sonne und Mond sehen konnte, aber die Kerzen brannten nicht ab? Sie hatte Hunderte Fragen, und Jake sagte immer: Ich weiß nur, dass es eine Sonne gibt und den Himmel und den Schnee und dich und mich, mehr weiß ich nicht. Und dann wurde sie wütend auf ihn, bis er sich gezwungen sah, Antworten auf ihre Fragen zu suchen,