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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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zu bedeuten hat. Es waren bloß zwei Krähen. Muss denn alles eine Bedeutung haben?«
    Darauf gab es keine Antwort, nur das Klappern der Sitze. Oben angekommen hopsten sie behände vom Lift. Jake rückte seine Mütze zurecht und fädelte sich die Halteschlaufen seiner Skistöcke über die Handgelenke.
    »Es ist wunderschön. Es ist so wunderschön. Jake, können wir …«
    »Ja.«
    »Ja, wofür? Du weißt doch noch nicht mal, was ich dich fragen will.«
    »Auf halber Strecke. Ob wir da in den Wald fahren können. Es noch mal versuchen. Ja.«
    »Letztes Mal bin ich so verboten schlecht gefahren. Ich will nur herausfinden, ob ich es nicht besser kann.«
    Er lächelte. »Das ist ein guter Grund.«
    »Diesmal können wir es etwas gelassener angehen.«
    »Klar. Wir legen an derselben Stelle einen Halt ein.«
    Jake stieß sich ab und ließ die Skier einfach laufen. Die Beschaffenheit des Schnees hatte sich verändert. Er war noch immer tief und unberührt, nicht von Pistenfahrzeugen platt gewalzt, aber die Sonne hatte ihn weicher gemacht, sodass die Skier ein klein wenig langsamer liefen und lauter zischten.
    Zoe folgte ihm. Der Himmel war atemberaubend blau, und die Lärchen und Kiefern, gemischt mit Fichten, webten zu beiden Seiten des wachsweißen Hangs eine herrliche grüne Samtborte in den Schnee. Zoe wusste, einfach die Skier laufen zu lassen, war beinahe wie Fliegen.
    Ich falle durch die Himmelssphären.
    Der jungfräuliche Schnee teilte sich vor den schwerelos darüber schwebenden Spitzen ihrer Skier. Weit, weit unten auf der Piste schaute sie sich nach Jake um, der in seinem schwarzen Skianzug über den Hang jagte wie eine Krähe im Sturzflug, kaum einmal einen Schwung machte, und erst das Tempo herausnahm, als er sich Zoe näherte, und dann neben ihr zum Stehen kam.
    »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich dich überholt habe«, meinte sie.
    »Du warst in deiner eigenen Welt.«
    »Das stimmt. Ein paar Augenblicke lang war ich ein Vogel. Und du auch.«
    »Und jetzt durch die Bäume?«
    »Jetzt durch die Bäume.«
    Diesmal schafften sie es wesentlich zügiger, und dort, wo sie nicht so schnell vorankamen, lachten sie einfach, und ihr gemeinsames Lachen hallte laut durch die stillen Bäume. Es war ein wenig wie in der Kirche zu lachen: Es wurde entweder begrüßt oder stirnrunzelnd verurteilt, je nachdem, welchen Gott man anbetete. Sie sprangen über vereiste Bäche und umfuhren herausragende Felsnasen, die an halb vergrabene Fäuste oder Fingerknöchel von Riesen erinnerten. Sie schlüpften zwischen den schattigen Kiefern und Fichten hindurch und wirbelten weiß rieselnde Pulverschneewölkchen auf.
    Sie kamen nur mühsam voran, aber diesmal schafften sie es ohne Sturz und kamen schließlich an denselben schneebedeckten Holzfällerweg wie beim letzten Mal. Sie wussten, dass der sie wieder zurück nach Saint-Bernard bringen würde, also stampften sie weiter durch den Wald, nur um kurz darauf auf eine Kehre desselben Weges weiter bergab zu stoßen, und dahinter einen steilen Abhang, den sie unmöglich hinunterfahren konnten. Also fügten sie sich ins Unvermeidliche und ließen sich von ihren Skiern auf dem alten Waldweg wieder ins Dorf zurückbringen.
    Von den Skispuren ihres ersten Fluchtversuchs war nichts mehr zu sehen. Sie waren längst wieder von Schnee bedeckt. Zweimal hielt Jake auf dem Weg nach unten an, drehte sich um und schaute zurück. Er sagte, er habe das Gefühl, jemand oder etwas könne womöglich hinter ihnen her sein und sie verfolgen. Womöglich wünschte er sich aber auch, dass etwas hinter ihnen her war.
    Sie sahen nichts. Langsam fügten sie sich in ihr Schicksal.
    Rings um das Dorf setzten sie Sessel-und Schlepplifte in Gang und ließen sie laufen, wodurch so etwas wie ein Netzwerk verschiedener Abfahrten entstand. Die Pistenbedingungen waren perfekt. Der Himmel war blau wie das Meer, und die Sonne schien so warm, dass sie nicht mal eine Jacke tragen mussten.
    »So gut bin ich noch nie Ski gefahren«, meinte Zoe.
    »Ich auch nicht. Wollen wir Pause machen und irgendwo zum Mittagessen einkehren?«
    »Ich hab keinen Hunger.«
    »Ich auch nicht, aber ich möchte gerne in einem dieser Bergrestaurants Rast machen, ein schönes Feuer im Kamin anzünden und ein bisschen entspannen.«
    »Ist dir kalt?«
    »Überhaupt nicht. Aber ich würde das trotzdem gerne machen. Wir essen, obwohl wir keinen Hunger haben; wir trinken, obwohl wir keinen Durst haben; und nun will ich entspannen, obwohl ich nicht müde

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