Schneestille
hatte. Natürlich gab es weder Fernsehen noch Internet; aber beidem weinten sie keine Träne nach. Jake meinte, beim Fernsehen hätte er sich zeit seines Lebens ohnehin wie ein Zombie gefühlt, und das Internet sei ein schwammiges Zwischenleben aus wahllosem Herumsurfen, unnötigen Nachrichten, schwachsinniger Fußballfachsimpelei und Pornos.
»Du warst im Fußball-Chat?«
»Ein, zwei Mal vielleicht«, gestand Jake.
Etliche der Hotels im Ort hatten große Wellness-Bereiche mit Sauna und Dampfbad. Rodelschlitten gab es in rauen Mengen und Schneemobile, wenn man sie denn aufgeschlossen bekam, oder man tauschte die Abfahrt-gegen Langlaufskier oder Snowboards. Eislaufen ging natürlich auch. Und es gab polierte Granitsteine und Besen für einen vollkommen abstrusen Wintersport namens Curling. Darüber hinaus waren die Beschäftigungsmöglichkeiten in dem kleinen Dörfchen eher beschränkt. Es gab kein Kino, aber immerhin hatten sie ein kleines Bowlingcenter entdeckt.
Also gingen sie zum Bowlen.
Die Mechanik der Bahnen funktionierte einwandfrei. Sie hielten sich sogar an die freundliche Aufforderung, adäquates Schuhwerk zu tragen, mussten aber Sadie mehrfach davon abhalten, der Kugel die polierte Bahn entlang hinterherzujagen. Da keiner von ihnen je gebowlt hatte, wussten sie nicht so recht, wie man Punkte zählte, also bowlten sie einfach ohne. Es machte Spaß, zu hören und zu sehen, wie die Kugeln mit einem satten Klackern automatisch wieder zurückgerollt kamen. Und die Pins polterten so schön beim Umfallen. Doch auch dieser Zeitvertreib verlor rasch an Reiz.
»Weiß nicht«, meinte Jake. »Aber ich glaube nicht, dass ich das bis an mein Todesende machen möchte.«
»Da muss ich dir widersprechen«, sagte Zoe, schleuderte schwungvoll eine Kugel auf die Bahn und schaute ihr hinterher, wie sie in die Rinne kullerte. »Ich könnte mir durchaus vorstellen, das noch mindestens zehn Minuten lang zu machen.«
Bald standen sie wieder auf den Skiern und fuhren im Sessellift den Berg hinauf. Sadie saß zwischen ihnen, leicht hechelnd und mit heraushängender Zunge. Sie wollten sie mit nach La Chamade nehmen, das auf halber Strecke der Abfahrt lag, und sie sollte dann selbst entscheiden, ob sie drinnen oder draußen auf sie warten wollte.
»Dieselben Holzscheite, und sie brennen immer noch«, stellte Jake fest, nachdem er kurz in dem Bergrestaurant gewesen war.
»Das ist doch irre.«
»Ist es. Aber ich hatte das Gefühl, als hätten sich die Scheite ganz leicht verschoben.«
»Leicht verschoben?«
Jake hatte Sadie auf der überdachten Terrasse des Restaurants gelassen. Der Hund hatte ihm schwanzwedelnd nachgeblickt, als er durch den Schnee zurück zu Zoe gestapft war. »Ich glaube, eins der Scheite lag in einem etwas anderen Winkel auf den anderen. Anders als das letzte Mal, als wir hier waren, meine ich. Es lehnte ungefähr in einem Siebenunddreißig-Grad-Winkel gegen das andere brennende Scheit, und jetzt sind es vierundfünfzig.«
»Ich das dein Ernst?«
»Ich glaube schon.«
Obwohl sie das zunächst für einen Witz hielt, meinte er es doch todernst. Beide achteten aufmerksam auf kleinste Veränderungen in der Landschaft; sie beobachteten das Wetter, suchten stets aufmerksam nach irgendwelchen Hinweisen; sie untersuchten die Beschaffenheit des Schnees; sie forschten nach Rissen im Eis und machten sich Gedanken darüber, wie die Bäche flossen; kurzum, sie suchten die Oberfläche ihrer Welt nach den winzigsten Anzeichen von Veränderungen ab.
Und sie suchten auch im Gesicht des anderen.
»Was ist los?«
»Unsere Shoppingtour heute Morgen«, meinte Zoe, »und das Bowlen. Irgendwie bin ich sauer auf mich.«
»Reine Zeitverschwendung?«
»Du kennst mich so gut. Jetzt, wo wir … Na ja, dann sage ich es halt, jetzt, wo wir tot sind, denke ich dauernd über mein Leben nach. Was ich gemacht habe. Und dabei denke ich nicht nur darüber nach, was ich Gutes und Schlechtes getan habe. Ich denke vor allem über all die dummen Dinge nach, mit denen ich meine Zeit vertrödelt habe. Shopping. Bowling. Wobei ich nie bowlen war, aber du weißt, was ich meine. Dinge, mit denen man sich die Zeit vertreibt. Oder wohl vielmehr die Zeit totschlägt. Und ich frage mich, ob wir das gerade auch machen – dauernd mit Stöcken in den Händen die Berge rauf und runter?«
»Nein, das ist was anderes.«
»Und warum das?«
Über die Antwort brauchte er nicht mal nachzudenken. »Weil es Leben am Limit ist. Man muss hoch
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