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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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über eine Pflegeaufsicht und einen Alarmknopf, mittels dessen man Hilfe rufen konnte, wenn man hingefallen war oder sonstige Schwierigkeiten hatte. Archie hatte den Alarmknopf auf der Stelle deaktiviert. Und gemeint, das sei eine verdammte Beleidigung.
    Ja, halte jeden Augenblick fest, Zoe.
    Aber was war denn ein Augenblick? Gischt auf der Krone einer sonnenbeschienenen Welle? Ein Fuchsschwanz, der durch die Hecke verschwindet? Ein Meteorit, der am Augusthimmel aufleuchtet? Alles wurde oder verging. Zoe glaubte nicht, dass man einen Moment greifen oder festhalten oder einfrieren konnte.
    Archie hatte dagestanden und ihr zugesehen, wie sie den Weihnachtsbaum schmückte, die Fäuste fest in die Hüften gestemmt. Er gehörte zu den Männern, die immer kurzärmelige Hemden trugen, ganz gleich zu welcher Jahreszeit. So kamen seine gebräunten, behaarten Arme gut zur Geltung, aber Zoe wusste, dass er nicht etwa aus Eitelkeit kurze Ärmel trug: Nein, lange Hemdsärmel waren einem bloß im Weg, und dauernd musste man sie hochkrempeln.
    Archie hatte mit zwei seiner Freunde vom Bowling Club einen Winterurlaub in einem Hotel in Tunesien gebucht. Jake wollte sie am darauffolgenden Morgen abholen und zum Flughafen fahren. Archie hatte sich dagegen gesträubt, dass Zoe den Baum schmückte, weil ihn ohnehin niemand sehen würde, wie er meinte.
    Zoe sagte: »Wenn im Wald ein Baum umfällt, ohne dass irgendjemand dabei ist, macht er dann ein Geräusch?«
    »Wie bitte, was?«
    Aber Zoe wusste, dass Archie den Baum nicht haben wollte, weil es ihm jedes Jahr schwerer fiel, die Erinnerungen zu ertragen.
    Ihr Weihnachtsbaum war anders. Anders als andere Weihnachtsbäume, genauer gesagt. Statt mit bunten Kugeln war er nämlich mit Erinnerungsstücken behängt. Das Ganze hatte angefangen, als Zoes ältere Schwester vor vierunddreißig Jahren auf die Welt gekommen war. Ihre Mutter und ihr Vater hatten begonnen, Dinge an den Christbaum zu hängen, die an wichtige Ereignisse in ihrem Leben erinnerten. Jeder Geburtstag, jedes Jubiläum, jeder Familienurlaub wurde verewigt. Wenn sie gemeinsam in Urlaub fuhren, brachten sie immer etwas mit, das sie an den Weihnachtsbaum hängen konnten. Wenn die Kinder eine Prüfung bestanden oder einen anderen Meilenstein passiert hatten, fand ein Symbol dafür den Weg an den Christbaum. Es gab silberne Taufgeschenke, einen winzigen Ballettschuh, ein Silberkästchen mit ihren Milchzähnen, ein Schwimmabzeichen, Muscheln und Steine, die sie am Strand gefunden und in die Archie Löcher zum Aufhängen gebohrt hatte, Amulette von Straßenhändlern, die sie an exotischen Orten erstanden hatten … Und irgendwann war kein Platz mehr gewesen für die bunten Kugeln, und der Baum war zu einer Art Erinnerungsalbum der Familie, ihrer gemeinsamen Zeit und einzelner Erlebnisse geworden. Momente des Werdens und Vergehens hingen an den Zweigen.
    Es war ein Lebensbaum, im wahrsten Sinne des Wortes. Und Archie fiel es Jahr für Jahr schwerer, ihn zu betrachten.
    Er stand da und schaute zu, wie sie den Baum schmückte, und nahm die Hände von der Hüfte, um sie tief in den Hosentaschen zu vergraben. »Ja, wir sind bloß Schneeflocken auf einem heißen Backblech, meine Süße. Schneeflocken auf einem heißen Backblech.«
    »Du weißt nicht, was nach diesem Leben kommt«, hatte Zoe gesagt und ein Armband um einen Zweig der Blautanne gewickelt. »Niemand weiß das.«
    »Niemand will das wissen, meinst du wohl. Niemand will es wissen. Es ist ein langer dunkler Weg, den man mit geschlossenen Augen und verstopften Ohren geht. Außerdem geht es gar nicht darum, wohin man geht. Wichtig ist, was man hinterlässt. Also, der Moslem, der …«
    »Das hast du mir schon mal erzählt, Dad.«
    Archie ließ sich nicht beirren. Er sprach immer von »dem Moslem«, als gebe es nur einen einzigen. »Also, der Moslem sagt, man soll einen Brunnen graben für die kommenden Generationen. Das gefällt mir. Sehr sogar.«
    Archie hatte einen Brunnen gegraben. Er hatte Brücken gebaut und für die Konstruktion zweier großer Staudämme im Ausland verantwortlich gezeichnet. Archie brauchte man nicht zu sagen, er solle die Ärmel aufkrempeln.
    »Niemand weiß es«, entgegnete Zoe beharrlich. »Es ist das große Geheimnis.«
    »Ach, das sagst du, aber …«
    Zoe wartete darauf, dass er weiterredete, doch bei Archie kam nie etwas nach dem aber .
    Dann meinte er: »Weißt du, deine Mutter, die hat auch nicht daran geglaubt. Weißt du, wie viele Menschen an

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