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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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Licht flackerte und dann ausging. Plötzlich saßen sie in vollkommener Dunkelheit in der Saunahütte. Sie warteten einen Moment, ob der Strom womöglich wie beim letzten Mal gleich wieder anging. Tat er aber nicht. Vorsichtig tasteten sie sich hinaus und am Rand des Schwimmbeckens entlang. Von draußen fiel gerade so viel vom Schnee reflektiertes Mondlicht herein, dass sie wenigstens ein paar Umrisse erkennen konnten.
    »Ob das der Wind war?«, fragte Zoe. »Vielleicht hat er die Stromleitungen abgerissen.«
    Ohne zu antworten reichte Jake ihr die Kleider.
    Durch die Dunkelheit tappten sie zur Hotelrezeption. Jake wusste, wo im Restaurant Kerzen lagen. Er ließ Zoe draußen warten und kam mit einer Handvoll Kerzen zurück, eine schon entzündet in der Hand. Er ging voran und leuchtete ihnen den Weg zu ihrem Zimmer.
    Der Sturm draußen hatte sich zu einem ohrenbetäubenden Brüllen gesteigert, aber der kleine Ort war darauf ausgerichtet, solchen Unbillen zu trotzen. Nirgends konnten sie Anzeichen dafür erkennen, dass die Stromleitungen heruntergerissen worden waren. Sie ließen die Kerzen auf den Nachttischchen brennen, krabbelten ins Bett und hielten sich in den Armen, während der Wind draußen seufzte und ächzte und um die Giebel schnappte. Zoe behauptete, Stimmen im Wind zu hören; Männerstimmen, die etwas riefen. Jake küsste sie, nahm sie in den Arm und sagte ihr, sie solle schlafen.
    Jake konnte sich im Handumdrehen vom Weisen zum Krieger verwandeln, vom Ehemann zum Schuljungen. Sein Tempo war atemberaubend. Das war einer der Gründe, warum sie ihn so liebte. Sie schliefen miteinander, aber aus irgendeinem Grund war er viel zu sanft zu ihr. Nachdem er in ihr gekommen war, lachte er; und dann brach er unvermittelt in Tränen aus. Fast, als sei er betrunken. Sie hielt ihn fest, bis die tiefen Schluchzer verebbten und er schließlich einschlief.
    Mitten in der Nacht weckte er sie. Sie war hundemüde, aber er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Wach auf, Zoe – ich bin endlich dahintergekommen.«
    Sie schlug die Augen auf. Das Licht war an, und trotzdem brannten die Kerzen noch. »Oh, der Strom ist wieder da.«
    Jake schaute über die Schulter hinauf zum Licht, als sei er mit den Gedanken ganz woanders und habe es gerade erst gemerkt. »Oh. Ja. Aber ich bin dahintergekommen. Ich weiß jetzt, wo wir sind. Wie sind an einem Ort, an dem sich die Gesetze der Physik und des Traums treffen.«
    »Was?«
    »Ganz genau. Ich bin aufgewacht, und da ist mir das auf einmal schlagartig klar geworden.«
    Sie zog ihn zurück ins Bett, ganz nahe an sich heran. »Schlaf weiter, Liebling. Schlaf.«
    »Ist gut.«
    Er schlief auf der Stelle ein. Sie stieg aus dem Bett und knipste das Licht aus. Es war beinahe Vollmond, und gerade lugte er hinter den Wolken hervor und warf sein strahlendes, leicht wächsernes Licht auf den Schnee. Sie musste an ihren Vater denken. Sie lag da und schaute den Mond an, als hätte auch er Geheimnisse, als wüsste er etwas.

10
    Ihr Vater hatte gesagt: Du musst jeden einzelnen Augenblick im Leben festhalten, Zoe, denn das Leben vergeht wie im Flug, es vergeht verteufelt schnell. Und er musste es schließlich wissen: Er hatte beide Elternteile verloren, noch ehe er aus den kurzen Hosen raus gewesen war, dann einen Bruder bei einem Autounfall und auch eine seiner süßen Schwestern. Die war auf dem Weg zur Kirche auf Glatteis ausgerutscht und hatte sich dabei den Schädel gebrochen. Und dann natürlich Zoes Mutter. Es kann alles ganz schnell vorbei sein, Zoe, schneller, als man gucken kann.
    Und dabei hatte er mit den Fingern geschnippt, um ihr zu zeigen, wie schnell es gehen konnte.
    Zoe war bei ihm zu Hause gewesen und hatte den Baum geschmückt. Seit ihre Mutter gestorben war, schmückte sie jedes Jahr den Baum für ihn. Einmal hatten sie sich deswegen sogar gestritten. Na ja, nicht so richtig gestritten. Aber Archie hatte sie gefragt, warum sie sich die Mühe machte, wo er doch sowieso an Weihnachten nicht daheim war. Doch sie hatte darauf beharrt, dass es ohne Weihnachtsbaum einfach nicht dasselbe wäre.
    Archie kam aus Dundee und war ein pensionierter Ingenieur; ein Arbeiterkind, das es zu etwas gebracht hatte im Leben. Nachdem er sein eigenes schönes Häuschen verkauft hatte, war er in einen Bungalow auf dem Gelände einer Seniorenresidenz gezogen und hatte Zoe und Jake den Rest des Erlöses geschenkt, damit sie sich ein eigenes Haus kaufen konnten. Die Seniorenresidenz verfügte

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