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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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könnten sie sie womöglich nicht mehr benutzen.
    »Und wenn schon. Das ist egal. Irgendwie habe ich sowieso das Gefühl, dass unsere Tage hier gezählt sind.«
    »Warum sagst du das? Warum?«
    Der Wind zerrte an den Fahnen und drohte, sie von ihren stolzen Masten zu reißen. Jake sagte nichts und ging wortlos hinein. Zoe folgte ihm und hielt sich schützend den Bauch.
    Sie ging hinter ihm her in die Küche. Er marschierte zu der Edelstahlarbeitsfläche und blieb vor dem in Streifen geschnittenen Fleisch und dem Gemüse stehen, die seit dem Tag der ersten Lawine dort lagen. Das rosarote Fleisch wurde an den Kanten grau und hatte einen schillernden Schimmer bekommen. Das klein geschnittene Gemüse welkte. Der Sellerie wurde an den Schnittstellen, wo das Messer hindurchgeglitten war, langsam braun. Die einst pralle Haut der Paprika hatte ihren Glanz verloren, die Möhren hatten ihr strahlendes Orange eingebüsst und waren blass und weiß geworden.
    Jake beugte sich vor, um die Rindfleischstreifen unter die Lupe zu nehmen. Er roch daran und rümpfte dann die Nase.
    »Werfen wir das Zeug lieber weg«, meinte Zoe.
    Jake legte ihr die Hand auf den Arm, um sie daran zu hindern. »Lass alles, wie es ist. Das ist unsere einzige Uhr.«
    Zoe wollte das nicht hören. Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück auf ihr Zimmer.
    Derweil war aus dem Wind draußen ein Sturm geworden. Er fegte durch die Gassen und ächzte und heulte um die Giebel und Regenrinnen des Hotels; kummervoll und gramgebeugt, rastlos, als fände er keine Ruhe bei seiner Suche nach etwas Verlorenem, nach etwas Wiedergutzumachendem. Vom Fenster aus schauten sie zu. Eine Fahne war vom Mast abgerissen worden und hatte sich um einen Laternenpfahl ganz in der Nähe gewickelt. Eine Werbetafel hatte es glatt umgepustet.
    Um den Geräuschen des Windes zu entkommen, flüchteten sie sich in das Spa und drehten den Einstellknopf der Sauna hoch. Dann zogen sie sich aus und schwammen ein bisschen, während sie darauf warteten, dass die Sauna sich aufheizte. Zoe glaubte, das Wasser sei ein, zwei Grad kühler geworden, verlor aber kein Wort darüber. Als die Sauna so weit war, gingen sie noch triefend nass in die Kiefernholzhütte. Jake schöpfte Wasser und goss es auf die Steine.
    Dann lehnten sie sich zurück und fielen in eine Art Dämmerzustand.
    »Wenn wir doch bloß was tun könnten. Wenn wir doch bloß was machen könnten, irgendwas«, meinte Zoe.
    »Das haben wir doch schon diskutiert. Wir können nichts weiter tun, als da zu sein. Solange wir dürfen.«
    Wieder strich Zoe sich über den Bauch. Dampf stieg aus den Kohlen auf. Sie hatte das Gefühl, dass es zu heiß wurde in der Saunahütte. »Mir reicht’s«, meinte sie.
    »Ich hab nicht mal angefangen zu schwitzen«, klagte Jake.
    »Nein, aber ich schon.« Sie nahm ihm die Schöpfkelle aus der Hand und versteckte sie hinter ihrem Rücken. »Ich muss dir was sagen.«
    »Ich will’s gar nicht hören.«
    »Warum denn nicht? Du musst es aber hören.«
    »Nö. Du hast einen Unterton in der Stimme, der mir eindeutig sagt, dass ich es nicht hören will. Und unter diesen Umständen will ich es, egal was es ist, lieber nicht hören.«
    »Du musst aber. Wenn du mich liebst, dann musst du es dir anhören.«
    »Glaubst du, Menschen, die sich lieben, müssen einander alles sagen?«
    »Ja, natürlich.«
    »Das ist ja lächerlich.«
    »Warum soll das lächerlich sein, du Mistkerl? Immer, wenn ich anderer Meinung bin als du, ist es ›lächerlich‹. Weißt du, dass du tot genauso eine Nervensäge bist, wie du es lebendig warst? Der Tod hat dich kein bisschen verändert.«
    »War’s das?«
    »So ziemlich.«
    »Soll ich dir mal sagen, warum das lächerlich ist? Weil zwei Menschen, die sich lieben, kein Schwarmgehirn haben wie ein Bienenvolk. Und es ist auch gar nicht erstrebenswert, sämtliche Gedanken des anderen zu kennen, dasselbe zu denken, dasselbe zu wissen. Es geht darum, eigenständig zu sein und sich doch zu lieben, obwohl man unterschiedlich ist. Einer ist die Violinensaite, der andere der Bogen.
    »Der Himmel steh uns bei.«
    »Denke darüber, was du willst, aber so sehe ich das.«
    »Jake, hast du irgendwelche Geheimnisse vor mir?«
    »Das will ich doch sehr hoffen. Und ich hoffe, du hast auch ein paar Geheimnisse vor mir.«
    »Tja, das hier kann ich jedenfalls nicht für mich behalten.«
    »Also gut. Dann mal raus damit.«
    Gerade wollte sie ihm von dem Baby erzählten, das in ihrem Bauch heranwuchs, als das

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