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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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Meinung, wir sollten uns davon verabschieden? Alles die Gosse runtergehen lassen?«
    »Überhaupt nicht. Ich meine damit bloß, manchmal sind wir vernünftig und manchmal nicht. Wir haben keine Ahnung, was hinter der Vernunft liegt. Und Unflätigkeiten, wie du es nennst, sind ein Ausdruck dafür.«
    »Aha! Dann sind wir uns zumindest in einem Punkt einig! Man beschwört damit das Unterbewusste, Tod und Schmutz herauf.«
    »Stecken die nicht ohnehin hinter allem?«
    Peter verzog hinter seinem Brandyglas verächtlich den Mund. »Du hast doch keine Ahnung vom Tod, Junge. Nicht das kleinste bisschen.« Sofort maßregelte er sich selbst. »Entschuldige, das war nicht gerade männlich von mir.«
    »Nicht männlich? Dad! Mach dich doch mal locker, ja? Sieh’s doch mal so: Fluchen ist bloß eine Möglichkeit, ein bisschen Dampf abzulassen. Ein harmloses Sicherheitsventil.«
    »Da sind wir unterschiedlicher Meinung.«
    Jake stand auf. Es war Zeit zu gehen. Zum Abschied gaben sie sich immer fest die Hand und sahen sich dabei in die Augen: Sein Vater hatte ihm beigebracht, seinem Gegenüber immer in die Augen zu sehen, wenn man sich die Hand gab. Jake hatte gesehen, wie Zoe und Archie sich zur Begrüßung und zum Abschied liebevoll umarmten. Er hatte sich gefragt, ob das Widerstreben gegen eine Umarmung typisch männlich war, aber nach ein, zwei Jahren drückte Archie auch ihn zur Begrüßung an seine Brust. Wohingegen er und Peter sich jahrelang immer bloß fest die Hand gegeben hatten und ihnen nicht im Traum in den Sinn gekommen wäre, etwas daran zu ändern.
    Aber als er seinen Vater dann so im Krankenhaus liegen sah, hätte er ihn doch am liebsten umarmt. Dieser Vater, der urplötzlich, unerklärlich und im krassen Gegensatz zu seiner lebenslangen Zurückhaltung nun das Fluchen angefangen hatte.
    Peter hob den Kopf aus den Kissen. »Du weißt, dass sie Charlie erwischt haben, oder? Das arme Schwein.«
    »Charlie?«
    »Wir haben ihn verloren. Tut mir wirklich leid. Guter Kerl, eigentlich. Hast du den Geländeabbruch gesehen, über den wir reingekommen sind?«
    »Geländeabbruch?«
    »Herrgott noch mal, das habe ich doch schon tausend Mal gesagt. Oben im Fels über der Höhle gibt es einen Überhang. Wenn wir einen Mann entbehren können, dann sollte dort rund um die Uhr ein Posten stehen. Ganz genau da, verdammt noch mal.«
    »Dad …«
    »Darüber diskutiere ich nicht, verfluchter Dreck. Wir sind hier nicht im Rathaus, verdammt. Sieh einfach zu, dass es gemacht wird. Ich muss es Charlies Frau sagen, wenn wir zurückkommen, Dreck verfluchter. Wenn wir je zurückkommen. Alles eine ziemliche Drecksscheiße, ich sage es dir.«
    Jake hatte Trauben und Zitronen-Gerstenmalz-Limo mitgebracht. Die stellte er nun auf das Nachtschränkchen.
    »Trauben?«, meinte Peter. »Wo zum Teufel hast du die denn um diese Jahreszeit aufgetrieben?«
    »Im Supermarkt, Dad.«
    Peter griff nach dem Brillengestell, doch seine Brille lag zusammengefaltet auf dem Nachttisch. Er wollte gerade etwas sagen, als die Oberschwester hereinkam und sein Diagramm aus der Halterung am Fußende des Bettes nahm.
    »Ich will, dass diese verfluchten Dreckshuren hier weggeschafft werden.«
    »Aber, aber, Mr. Bennett«, sagte die Oberschwester streng. »Bitte mäßigen Sie sich.«
    »Schmeiß die Nutte hier raus, Jake. Du weißt doch, würden Army-Soldaten ihre Stiefel aus Fotzenleder machen, die würden sich nie durchlaufen.«
    »Tut mir leid, tut mir schrecklich leid«, sagte Jake. »Dürfte ich Sie kurz sprechen?«
    Jake ging mit der Oberschwester aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. »Also, wissen Sie, so habe ich ihn noch nie erlebt.«
    Die Schwester war eine kräftige Frau mit großen Kuhaugen und wasserstoffblond gefärbten Locken, die sich um ihre Stirn ringelten. »Ach, ich bitte Sie, da habe ich schon Schlimmeres gehört.«
    »Wirklich? Ich nicht.«
    »Na ja. Ich weiß.«
    »Es ist, als sei er auf einer Zeitreise. Er ist wieder im Krieg. Es ist, als würde er immer noch kämpfen. Kommt das von den Medikamenten?«
    »Nein, eigentlich nicht. Durch den Krebs beginnen die Knochen zu bröckeln, und die Bruchstücke gelangen in den Blutkreislauf. Das Kalzium gerät so bis ins Gehirn. Er ist nicht immer so. Die meiste Zeit ist er ganz lieb und nett.«
    »Das beruhigt mich. Hören Sie, ich habe eine Flasche Brandy in der Tüte und Pappbecher. Ich weiß, dass das eigentlich nicht gern gesehen wird, aber … meinen Sie, es wäre okay, wenn er ein

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