Schneestille
Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Personen zu ergründen; die wenigen Farbfotos aus den Siebzigerjahren – die schon in Auflösung begriffen und verblasst waren – konnten nicht mit den satten, strahlenden Nuancen der modernen Aufnahmen mithalten, auf denen meist Kinder zu sehen waren.
Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass einige Menschen auf den Fotos bereits tot waren und andere noch lebten, und doch fühlte sie sich keiner der beiden Welten zugehörig.
An der Wand hing eine Uhr mit einem Pendel hinter einer kleinen Tür mit Glasscheibe, und die Zeiger standen auf zehn vor neun, was, so rechnete Zoe rasch nach, ungefähr die Zeit des Lawinenabgangs gewesen sein musste. Sie öffnete das Gehäuse und schubste das Pendel an, um die Uhr wieder zum Laufen zu bringen. Das Pendel schwang mit beruhigendem Klicken brav hin und her, blieb aber dann gleich wieder stehen. Sie versuchte es ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis. Dann suchte sie den Schlüssel, um die Uhr aufzuziehen. In diesem Augenblick schien ihr das plötzlich sehr wichtig. Aber irgendwann gab sie dann doch auf.
Von der Küche spazierte sie in die Werkstatt, die auf der einen Seite des Hauses untergebracht war. Drinnen duftete es angenehm nach Holzspänen. Ihr Blick fiel auf säuberlich aufgereihtes Holzwerkzeug – Meißel, Hobel, Sägen. Und dann sah sie, woran der Tischler gearbeitet hatte.
Es war ein Sarg. Das Holz war noch unbehandelt – bearbeitet und akkurat zusammengefügt und glatt gehobelt, aber noch unlackiert, wartete er darauf, innen ausgeschlagen, dann außen mit Griffen versehen und mit einem Deckel verschlossen zu werden. Fasziniert und entsetzt zugleich trat sie näher an den Sarg heran und erwartete fast, eine einbalsamierte Leiche darin liegen zu sehen, doch er war leer.
Dann hörte sie jemanden ins Haus kommen. Sie drehte sich auf dem Absatz um, und da stand Jake auch schon im Türrahmen zwischen Werkstatt und Wohnzimmer. Sein Gesicht lag im Schatten, aber ihm standen Tränen in den Augen.
»Er war Sargtischler. Der Mann, der hier gelebt hat. Das war sein Handwerk.«
Er spähte in den Sarg hinein. »Ungefähr meine Größe.« Und damit schwang Jake ein Bein auf die Werkbank.
»Nicht!«
Aber er überhörte ihren Einwand, stieg in den Sarg und machte Anstalten, sich hineinzulegen.
»Ich gehe jetzt«, sagte Zoe, lief nach draußen und ließ ihn dieses makabere Spiel alleine weiterspielen.
Draußen blieb sie neben der mit Holzscheiten beladenen Segeltuchplane stehen und wartete auf ihn. Es dauerte eine ganze Weile, aber sie wollte partout nicht wieder hineingehen und ihn holen. Endlich kam er heraus, packte wortlos einen Zipfel der Plane und begann daran zu ziehen.
Zoe nahm eine andere Ecke. »Das war nicht komisch.«
Er schnaubte. »Doch, war es wohl. War es und ist es. Es ist komisch.«
»Ist es nicht. Du hältst dich wohl für sehr komisch. Bist du aber nicht.«
»Es ist wohl komisch. Sehr komisch sogar.«
»Ist es nicht.«
»Ist es doch.« Und damit prustete er los vor Lachen, um ihr zu zeigen, wie komisch das war; und das Echo seines Gelächters hing in der eiskalten Luft wie ein Schreckgespenst.
Zoe presste die Lippen zusammen.
Wieder im Hotel angekommen stellten sie fest, dass sie wieder Strom hatten. Aber es dauerte keine zehn Minuten, da war er schon wieder weg.
»Manchmal muss man einfach lachen«, meinte Jake in der Dunkelheit. »Weißt du noch, mein Dad? Manchmal muss man einfach. Lachen, meine ich.«
13
Jakes Begegnung mit dem Tod war ganz anders gewesen als Zoes. Als er ins Krankenhaus kam, hatte man seinen Vater in ein Einzelzimmer ganz am Ende der Station verlegt. Sein Vater Peter sah ziemlich schwach aus, schaffte es aber, den Kopf vom Kissen zu heben und Jake anzuschauen.
»Gott sei Dank hast du es geschafft, Jake. Diese verfluchten Clowns haben ja keine Ahnung. Ich will eine Wache vor jeder Tür. Verstanden?«
»Ich kümmere mich darum, Dad. Wird prompt erledigt.«
Peter ließ den Kopf in die Kissen sinken. »Dem Teufel sei Dank, dass du es geschafft hast, mehr sage ich nicht.«
Noch nie in seinem ganzen Leben hatte Jake seinen Vater fluchen gehört. Er hatte ihn wütend erlebt, zynisch, bestürzt und gelegentlich auch mal angeheitert von einem Glas Cognac oder zwei, aber noch nie hatte er gehört, wie er fluchte, schimpfte oder Verwünschungen ausstieß, weder als Kind noch als erwachsener Mann. Peter missbilligte Fluchen.
Was für Jake schwierig war, denn während seiner
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