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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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war’s, machst du mir auch so ein Sandwich? Und das habe ich dann gemacht. Das war’s.«
    »Muss ja ein Mörderkuss gewesen sein.«
    »War es auch. Ein fleischlicher Kuss. Du bist voll drauf abgefahren.«
    »Sonst noch was, wovon oder wozu du mich konvertiert hast?«
    »Du warst Abstinenzler.«
    »Nicht dein Ernst!«
    »Nein, das stimmt tatsächlich nicht. Du erinnerst dich wirklich nicht mehr, was?«
    »Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich habe anscheinend so vieles vergessen.«
    Sie machte sich schreckliche Sorgen um ihn, sagte aber ganz leichthin: »Ist doch nicht schlimm. Ist nicht schlimm, denn alles, was du siehst oder anfasst oder hörst oder riechst, hat eine Geschichte. Eine Geschichte, die ich dir erzählen kann. Wenn du Speck sagst, kann ich dir eine Geschichte erzählen. Wenn du Schnee sagst, kann ich dir ein Dutzend Geschichten erzählen. Das sind wir: gesammelte Geschichten, die wir teilen, die wir gemeinsam haben. Das sind wir beide; das sind wir füreinander.«
    Er starrte sie an, mit blutunterlaufenen Augen voller Liebe und Zuneigung. Dann stand er auf.
    »Wo willst du hin?«
    »Ich hole Holz, um dich warm zu halten. Was hier liegt, reicht nicht mal für den restlichen Tag, geschweige denn für die ganze Nacht. Ich gehe schnell hin, hole Holz und komme auf der Stelle zurück.«
    Er bückte sich, um sie zu küssen, erstarrte und richtete sich wieder auf.
    »Was ist los?«
    »Dein Geschmack. Er ist wieder da.«
    Wieder küsste er sie und stand dann schnell auf. Er packte einen Zipfel der Segeltuchplane und ließ die verbliebenen Holzscheite herunterrutschen, dann wickelte er die Plane auf und klemmte sie sich unter den Arm. Danach ging er durch die Glastüren nach draußen und stapfte in den dichten Nebel hinein, während ihm winzige Schneeflöckchen um die Ohren wirbelten.
    Zoe legte Holz nach und wartete. Reglos saß sie da und starrte in die Flammen. Nach einer Weile wurde sie unruhig. Es kam ihr vor, als sei Jake schon ziemlich lange weg. Sie brachte Teller und Pfanne vom Frühstück in die Küche und spülte sie. Als sie ins Foyer zurückkam, wimmelte es dort vor Menschen.
    Es waren dieselben Leute wir beim letzten Mal, die sich nun wieder in der Eingangshalle drängten. Alle plapperten durcheinander. Es war rappelvoll. Die Leute standen an der Rezeption Schlange, um einzuchecken. Die drei Rezeptionistinnen waren beschäftigt wie zuvor auch; eine am Telefon, die andere mit der Kreditkarte, die dritte damit, inmitten des Lärms stirnrunzelnd den Ausführungen des Hotelmanagers zu lauschen. Die Szene war minutiös nachgestellt.
    Draußen hörte man die Bremsen des Luxusbusses schnauben. Da war der Mann, der an ihr vorbeiging und ihr anzüglich zuzwinkerte. Der Hauch seines Aftershaves.
    Alles wiederholte sich. Wieder einmal.
    Zoe hörte, wie die Dame an der Rezeption das Wort »Lawine« erwähnte. Sie schaute auf, und ihr Blick blieb an dem kahlköpfigen Concierge hängen, der ihr zuwinkte, ihr Zeichen gab, zu ihm zu kommen. »Madam!«, rief er. »Madam!«
    Doch Zoe war wie gelähmt. Sie konnte keinen Finger rühren. Die Szene, die sich nun schon zum dritten Mal vor ihr entfaltete, nahm etwas Bedrohliches an. Obwohl die Menschen vollkommen entspannt wirkten, drehte sich ihr der Magen um angesichts des munteren, lebhaften Durcheinanders.
    Der Concierge in seiner rotbraun-grauen Uniform sah, dass sie sich nicht vom Fleck rührte. Aufmunternd lächelte er ihr zu. Dann nahm er einen braunen Umschlag und winkte ihr damit.
    Zoe schüttelte den Kopf.
    Der Concierge sagte etwas zu einem anderen Gast und bahnte sich dann den Weg zu ihr, wobei er die ganze Zeit mit dem Umschlag herumwedelte.
    »Das ist nicht für mich«, sagte Zoe. »Das ist nicht für mich.«
    »Aber Madam!«, rief der Concierge, der unaufhaltsam näher kam.
    Zoe kniff die Augen zu.
    Und als sie sie wieder aufmachte, war der Concierge verschwunden, genau wie alle anderen Gäste, die plappernd in der Hotelhalle gestanden hatten, und die drei Rezeptionistinnen und die Engländerinnen und der Bus mit den Neuankömmlingen. Alle waren spurlos verschwunden.
    Wieder schloss Zoe die Augen, und diesmal zählte sie bis zehn. Als sie die Augen wieder öffnete, stellte sie zu ihrer Erleichterung fest, dass das Foyer noch immer menschenleer und verlassen war. Was auch immer diese wiederkehrende Vision ihr auch zeigen wollte, sie wollte es nicht sehen. Sie seufzte tief und ging, noch immer zitternd vom Schreck dieser wiederholten, aber vollkommen lebensechten

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