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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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Fußspuren, dann zumindest irgendwelche Abdrücke, die ihnen verrieten, welcher Natur die Gestalten waren, die in der letzten Nacht dort herumgegeistert waren. Oder vielleicht immer noch herumgeisterten. Aber es gab weder Stiefel-noch Klauenabdrücke oder sonst irgendwelche Spuren. Vermutlich waren sie ebenso verschwunden wie die Hufabdrücke des Pferdes und die Kufenspuren des riesigen Schlittens.
    Trotzdem wurde Jake fündig.
    Schweigend hielt er ihr sein Fundstück unter die Nase. Es war ein Zigarettenstummel. Der Filter war zerknüllt, als hätte ihn jemand zwischen den Fingern zerdrückt, um ihn auszumachen. Und es waren noch mehr da. Alle paar Meter fanden sie einen weiteren Stummel. Sie zerbrachen sich den Kopf darüber, wie lange die Zigaretten wohl schon da liegen mochten, wie frisch sie schienen, ob der übrig gebliebene Tabak schon abgestanden roch, ob das Papier noch makellos und weiß wirkte oder eher grau und vergilbt. Sie diskutierten, ob ihnen vorher schon mal Zigarettenstummel im Schnee aufgefallen waren; sie waren sich nicht sicher. Womöglich waren sie immer schon da gewesen, und sie hatten sie erst jetzt, nachdem sie die Eindringlinge bemerkt hatten, entdeckt. Sie schnupperten an den Stummeln, rissen sie auf, breiteten das Papier aus und zerbröselten den Tabak zwischen den Fingern. Sie brüteten über den weggeworfenen Kippen, als seien es die Schriftrollen vom Toten Meer, Papyrusrollen in einer unzugänglichen Sprache. Immer auf der Suche nach Bedeutung, Bedeutung, Bedeutung.
    Und dann entdeckte Zoe hinter dem Hotel noch einen Zigarettenstummel, in dem ein einziges glühendes Fitzelchen Asche aufglimmte, ehe es erlosch. Ein wundersam dünner Rauchfaden kräuselte sich über der Kippe nach oben. Sie bückte sich und pflückte sie aus dem Schnee, dann pustete sie darauf, und sie glühte auf.
    Triumphierend hielt sie Jake den Stummel unter die Nase, und er schaute sich das Ding angewidert an.
    Zoe drehte sich um und rief in den wirbelnden Dunst: »Hallo! Hallo! Ist da jemand?«
    Doch der gefrierende Nebel erstickte ihre Worte und schien sie ihr scheppernd wieder vor die Füße zu spucken.
    Jake legte die Hände wie ein Megafon um den Mund. »Halloooooooo!«, rief er. Doch auch seine Stimme trug nicht. »Wir wissen, dass ihr da seid!«, schrie er. Dann drehte er sich zu Zoe um. »Nein, wissen wir nicht«, murmelte er leise.
    Beide spähten angestrengt in den Nebel, und Zoe sah, oder glaubte zu sehen, wie ein winziger Funke scharlachrot und golden aufleuchtete; womöglich die Asche an der Spitze einer brennenden Zigarette, die aufglühte, als der Raucher daran zog. Doch es war so klein, und das Aufflackern war so kurz, dass sie sich nicht ganz sicher sein konnte.
    Womöglich sah Jake es auch, denn er stapfte leicht schwankend in den Nebel, als steuerte er auf einen Punkt in mittlerer Entfernung zu. Er war noch keine zehn Schritte gegangen, als seine Umrisse bereits zu verschwimmen begannen. Ohne die Panik in ihrer Stimme verbergen zu können, rief Zoe ihn zurück.
    »Ich wollte mich doch bloß mal umsehen.«
    »Ich habe Angst! Was, wenn du den Rückweg nicht mehr findest?«
    »Den finde ich schon.«
    »Jake, du hast mich gefragt, was sie uns antun könnten, das schlimmer wäre als Sterben. Ich verrate es dir. Sie könnten uns voneinander trennen.«
    »Was?«
    »Sie könnten uns trennen.«
    Jake zögerte und starrte sie unverwandt an. Diese Möglichkeit schien ihm noch gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Er ging zu ihr zurück und zog sie fest in seine Arme. »Das lasse ich nicht zu. Komm, wir gehen wieder rein.«
     
    Gemeinsam gingen sie zurück zum Hotel, und drinnen angekommen wollte Zoe die antiken Skier wieder durch die Türgriffe fädeln, doch Jake nahm sie ihr sanft, aber bestimmt aus den Händen und stellte sie beiseite. Urplötzlich fing sie an zu zittern. Sie klapperte mit den Zähnen, als hätte sie Schüttelfrost. Jake holte eine Decke, die er ihr um die Schultern legte.
    »Dir ist eiskalt«, sagte er. »Ich zünde das Feuer noch mal an.«
    »Ist dir nicht kalt?«
    Als Antwort schüttelte er nur den Kopf. Seit sie dort waren, hatte er kein einziges Mal gefroren. Sie dagegen klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Leib. Jake kniete sich vor das Feuer und zündete ein Streichholz an. Es schlug Funken und zischte, und in kürzester Zeit loderte das Feuer wieder, und er fütterte es mit kleineren Scheiten. Dann räumte er den Platz davor frei, damit sie sich an die wärmenden

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