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Schneestille

Schneestille

Titel: Schneestille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graham Joyce
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wenn sie einfach über die Straße flitzte.
    Doch während sie noch so dastand und sich die Nase an der Wand platt drückte und versuchte, außer Sichtweite zu bleiben und gleichzeitig die Männer im Auge zu behalten, wirbelte wieder eine dichte Nebelschwade heran, die sie beinahe, wenn auch nicht ganz, verschluckte. Der Nebel waberte um sie herum wie eine dichte Rauchwolke; gerade waren sie noch da, und im nächsten Moment waren sie verschwunden. Und ihr ging auf, dass nur der Nebel mitspielen musste, damit sie die Straße ungesehen überqueren konnte.
    Ungeduldig wartete sie auf den richtigen Moment. Es war zum Verrücktwerden. Der Nebel hing in der Luft wie ein tanzendes Einhorn oder eine Chimäre, die ihr immer wieder teilweise die Sicht auf die Männer versperrte, aber nie ganz. Einmal konnte sie ihre Beine sehen, dann die bedeckten Köpfe, während der Dunst sich hierhin und dorthin kräuselte wie brodelnder Wasserdampf. Ihre Geduld war erschreckend. Sie standen einfach da, schauten, warteten und rauchten.
    Endlich wogte der Nebel mit einem neuen Schneewirbel heran, worauf Zoe den Kopf einzog und losrannte. Sie rannte über den vereisten Schnee und rutschte aus, aber sie schaffte es, nicht hinzufallen, und stürzte zur anderen Straßenseite, wo die Männer sie nicht mehr sehen konnten.
    Schwer atmend drückte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand, und ihr Atem kondensierte in der kalten Luft zu dicken Wolken. Dann lief sie zu dem Haus, wo Jake das Feuerholz holen wollte. Sie brauchte kaum zwei Minuten. Als sie zu dem inzwischen arg geplünderten Holzstapel kam, lag da zwar die mit Holzscheiten beladene Plane, doch von Jake keine Spur.
    Nun fürchtete sie, sollten die Männer ihren Posten verlassen, könnten sie sie entdecken, also ging sie nach drinnen in der Hoffnung, Jake dort zu finden. Wie schon zuvor ließ sich die Tür zur dunklen Küche problemlos öffnen. Ein schwacher Lichtschein leuchtete ihr aus dem alten Spiegel über dem Kamin entgegen. Ihr Blick wanderte zur Schreinerwerkstatt mit dem wartenden Sarg. Sie machte ein paar Schritte darauf zu, doch dann drehte sie sich plötzlich um und sah Jake hinter ihr stehen. Er kehrte ihr den Rücken zu und schaute die Wand an.
    »Jake! Da sind Männer.«
    Jake drehte sich um und legte einen Finger auf die Lippen, damit sie still war. Dann schaute er wieder zur Wand.
    Hastig lief sie zu ihm. »Drei Männer.«
    »Ganz sicher?« Er schien wie in Trance.
    »Natürlich.«
    »Sieh mal«, murmelte er, gänzlich unbeeindruckt von dem, was sie zu berichten hatte. »Sieh dir mal die Fotos an.«
    Sie schnappte nach Luft.
    »Wie lange«, meinte Jake, »wie lange ist es her, seit wir hier in diesem Haus gewesen sind?«
    »Das war erst … gestern. Nein. Doch, warte, das stimmt. Gestern war das.«
    »Mir kommt vor, als sei es schon eine halbe Ewigkeit her. Wochen. Monate.«
    »Nein! Das war erst gestern.«
    Jake betrachtete noch immer die gerahmten Fotos. Dort, wo in Zoes Erinnerung Generationen einer Familie auf Bilder gebannt gewesen waren, in gestellten Sepia-Porträts und modernen, verblichenen Schnappschüssen, war nun nichts mehr. Die Fotos waren aus den Rahmen verschwunden. Die Rahmen, ob sie nun an der Wand hingen oder irgendwo standen, waren allesamt leer. Ihr gefror fast das Blut in den Adern. Die Haut kribbelte ihr vor Hitze.
    »Die Männer, Jake! Da sind Männer, die beobachten das Hotel.«
    Er schien überhaupt keine Angst zu haben. »Komm, dann gehen wir hin und reden mit ihnen.«
    »Nein! Wir müssen wieder zurück ins Hotel!«
    »Das sehe ich aber anders.« Er schien immer noch ganz benommen und redete undeutlich. »Wenn da irgendwelche Männer sind, muss ich mit ihnen reden.«
    Zoe verpasste Jake eine schallende Ohrfeige. »Das lasse ich nicht zu. Ich will nichts davon hören! Du gehst da nicht hin!«
    Er schaute sie an und lächelte. Dann legte er eine Hand an ihre Wange, eine Geste wie das zärtliche Gegenstück des Schlags, den sie ihm gerade versetzt hatte. Er drehte sich um und ging hinaus, und sie folgte ihm auf den Fersen. Draußen war der Nebel so dicht, dass man kaum ein paar Meter weit sehen konnte. Er nahm einen Zipfel der mit Holzscheiten beladenen Segeltuchplane und fing an, sie zum Hotel zurückzuschleifen.
    »Lass das. Das brauchen wir nicht.«
    »Wir müssen dich warm halten«, murmelte Jake fast ein wenig geistesabwesend. »Wir müssen gehen.«
    »Wir können hinten herum reingehen. Durch die Küchentür. Wenn wir es schaffen, die Straße

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