Schneesturm und Mandelduft: Kriminalroman (German Edition)
höher, und der Bug klatschte nach jedem Wellenkamm auf die Wasseroberfläche. Sie genoss das Salzwasser, das ihr ins Gesicht spritzte, und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, erblickte sie in der Ferne Gråskär. Wie jedes Mal, wenn die Insel plötzlich in Sicht kam und sie das kleine Haus und den stolzen weißen Leuchtturm vor dem blauen Himmel sehen konnte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Noch war sie zu weit entfernt, um den Anstrich des Hauses zu erkennen, aber sie konnte sich gut an den hellgrauen Farbton und die weißen Fensterrahmen erinnern. Vor ihrem inneren Auge sah sie auch die rosa Stockrosen an der windabgewandten Seite. Das war ihr Zufluchtsort, ihr Paradies. Ihr Gråskär.
In der Kirche von Fjällbacka waren alle Bänke besetzt, und der Altarraum quoll über vor Blumen. Kränze, Sträuße und seidene Trauerschleifen mit letzten Grüßen.
Patrik brachte es kaum über sich, den weißen Sarg inmitten des Blütenmeers anzusehen. In der großen Steinkirche herrschte beklemmende Stille. Auf den Beerdigungen von alten Menschen war immer Gemurmel zu hören. Während man sich auf Kaffee und Kuchen freute, raunte man sich zu: Sie hatte so starke Schmerzen, dass es wohl ein Segen war. Heute wurde geschwiegen. Alle saßen schwermütig auf ihren Plätzen und konnten die Ungerechtigkeit nicht fassen. So etwas durfte nicht sein.
Patrik räusperte sich, hob den Blick zur Decke und versuchte, seine Tränen wegzublinzeln. Er umklammerte Ericas Hand. Der Anzug kniff und kratzte, und Patrik musste am Hemdkragen zerren, um wieder Luft zu bekommen. Er hatte das Gefühl zu ersticken.
Oben im Turm läuteten die Glocken, und der Klang hallte von den Wänden wider. Viele zuckten zusammen und warfen einen Blick auf den Sarg. Lena kam aus der Sakristei und ging auf den Altar zu. Vor einer gefühlten Ewigkeit, in einer vollkommen anderen Wirklichkeit hatte Lena sie in dieser Kirche getraut. Damals war die Stimmung heiter, gelöst und unbeschwert gewesen. Nun wirkte die Pastorin ernst. Patrik versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Fand sie es auch nicht richtig? Oder lebte sie in der Gewissheit, dass alles, was geschah, einen Sinn hatte?
Wieder kamen ihm die Tränen. Er wischte sie sich mit dem Handrücken ab. Erica steckte ihm unauffällig ein Taschentuch zu. Nachdem der letzte Orgelton verklungen war, herrschte einige Sekunden lang Stille. Erst dann ergriff Lena das Wort. Anfangs bebte ihre Stimme, doch mit der Zeit wurde sie fester.
»Das Leben kann sich von einem Augenblick auf den anderen verändern. Aber Gott ist mit uns. Auch heute.«
Patrik sah, wie sich ihr Mund bewegte, hörte ihr aber nicht mehr zu. Er wollte nicht wissen, was sie sagte. Das bisschen Kinderglaube, das ihn sein Leben lang begleitet hatte, war verschwunden. Das, was passiert war, hatte keinen Sinn. Erneut umklammerte er Ericas Hand.
»Ich habe die Ehre, Ihnen voller Stolz zu verkünden, dass wir unseren Zeitplan einhalten werden. In gut drei Wochen findet in Fjällbacka die feierliche Einweihung des Wellnesshotels Badis statt.«
Erling W. Larson plusterte sich auf und ließ den Blick über die Vorstandsmitglieder des Gemeinderats schweifen, als erwarte er Applaus, musste sich jedoch damit begnügen, dass der eine oder andere anerkennend nickte. Immerhin.
»Das ist ein triumphaler Augenblick für unseren Ort«, erklärte er. »Einerseits ist ein Gebäude, das man nur als Kleinod bezeichnen kann, von Grund auf renoviert worden, andererseits haben wir nun ein modernes und konkurrenzfähiges Gesundheitszentrum zu bieten. Oder besser gesagt ein Spa, wie man das heutzutage nennt.« Er deutete mit dem Zeigefinger Gänsefüßchen an. »Nun bleibt nur noch der Feinschliff, dann dürfen einige ausgewählte Gruppen die Anlage testen, und schließlich muss das glanzvolle Eröffnungsfest vorbereitet werden.«
»Schön. Ich habe nur noch ein paar Fragen.« Mats Sverin, der seit einigen Monaten für die kommunalen Finanzen zuständig war, wedelte mit seinem Kuli, um Erling auf sich aufmerksam zu machen.
Aber Erling schaltete auf stur. Ihm war alles zuwider, was mit Verwaltung und Buchhaltung zu tun hatte. Zügig erklärte er die Versammlung für beendet und zog sich in sein geräumiges Arbeitszimmer zurück.
Nach dem Misserfolg mit der Realityshow »Raus aus Tanum« hatte niemand geglaubt, dass er noch einmal auf die Beine kommen würde, aber nun stand er mit einem noch grandioseren Projekt da. Nicht einmal im
Weitere Kostenlose Bücher