Schneesturm und Mandelduft
beschäftigt, ihre eigene zu bewältigen.
Sie erinnerte sich an den Tag seiner Geburt. Er war im Juli zur Welt gekommen, und im Kreißsaal war es unerträglich heiß gewesen. Sie hatte eine Wespe entdeckt, die zwischen den Scheiben des Doppelfensters gefangen war, und hatte sich auf den Kampf des Insekts gegen das Glas konzentriert. Aber kaum war ihr Blick auf Matte gefallen, waren sowohl die Wespe als auch die eigenen Schmerzen wie weggeblasen. Er war so klein. Auch wenn er normales Gewicht hatte, in ihren Augen war er unglaublich klein und zerbrechlich. Mehrmals zählte sie seine Finger und Zehen, als wolle sie damit beschwören, dass alles so war, wie es sein sollte. Er schrie nicht. Überrascht stellte sie fest, dass er stumm auf die Welt gekommen war, die Augen weit offen vor Verwunderung, ein wenig schielend, als er das Neue zu erfassen suchte. Von der ersten Sekunde, in der sie ihn gesehen hatte, liebte sie ihn so sehr, dass sie glaubte, ihr Herz würde zerbrechen. Natürlich hatte sie auch Lisette sofort geliebt, die einige Jahre später geboren wurde. Aber Matte war ihr erstes Kind. Und sie teilten etwas Besonderes. Zwischen ihnen gab es ein einmaliges Band, bereits vom ersten Moment an, als sein neugieriger Blick den ihren gekreuzt hatte. Harald hatte bei der Geburt nicht dabei sein dürfen. Damals war das ja noch so. Aber das hatte das Band zwischen ihr und Matte nur umso stärker gemacht. Sie und er gegen den Rest der Welt. Nichts sollte sie je trennen können.
Zweifellos hatte sich das geändert, als er älter wurde. Die Magie der allerersten Momente kam nicht zurück, aber etwas war geblieben. Das Gefühl, dass sie etwas Außergewöhnliches teilten. Es hatte ihr sehr weh getan, als sie sah, zu welch einer gequälten Seele er heranwuchs, und zu erahnen, mit was für Dämonen er zu kämpfen hatte. Lag es an etwas, was sie getan hatte? Waren Harald und sie daran schuld? Diese Fragen hatten mehrmals gedroht, sie zu ersticken. Doch insgeheim wusste sie, dass das nicht der Fall war. Bereits in den ersten Sekunden, als er warm und klebrig auf ihrer Brust lag, hatte sie seinen ernsten Blick bemerkt. Eine alte Seele, die noch einmal den Weg ins Leben betrat, obwohl sie vielleicht lieber Frieden und Ruhe gefunden hätte. Darüber hatte sie nie mit Harald geredet. Aber ein Teil von ihr war nicht überrascht gewesen, als sie Matte auf dem Boden liegend gefunden hatte, seine schönen blauen Augen blind nach oben starrend.
In gewisser Weise hatte sie immer gewusst, dass die alte Seele in Matte nicht die Kraft hatte, ein ganzes Leben durchzustehen. Diese Seele hatte schon zu viel gesehen, zu viel erlebt. Dass Matte dreißig werden durfte, war mehr als Britten zu hoffen gewagt hatte, aber die Trauer war deshalb nicht weniger schwer zu ertragen. Sie strich Lisette weiter übers Haar.
Martin kam gerade in dem Augenblick in die Küche, als Kerstin frisch zubereiteten Kaffee in eine Thermoskanne goss.
»Ach, könnte ich eine Tasse haben?«, bat er auf der Suche nach jedem Aufputschmittel, das er finden konnte, um gegen seine Müdigkeit und Resignation anzukämpfen.
»Natürlich«, antwortete Kerstin und goss den schwarzen Kaffee in einen großen Becher, den sie ihm reichte. Sie zögerte, fragte aber dann:
»Wir haben gehört, was passiert ist: Wie ist es denn geschehen?«
Auch Börje kam in die Küche, gespannt auf die Antwort.
Martin trank zuerst gierig einen Schluck Kaffee.
»Matte wurde erschossen. Seine Mutter hat ihn in seinem Zimmer gefunden, und bislang haben wir leider keine Ahnung, wer es getan haben könnte.«
»Es muss wohl dieselbe Person gewesen sein, die Ruben ermordet hat«, sagte Börje mit gerunzelter Stirn. Er warf einen Blick zur Tür des Kühlraums.
Martin zuckte die Achseln. »Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es sich um ein und dieselbe Person handelt, ja.«
»Haben Sie die Waffe gefunden?«, fragte Börje und musterte Martin eingehend.
»Nein. In Mattes Zimmer befand sich keine Pistole. Und ich habe gründlich gesucht.«
»Liegt er da drin?« Kerstins Stimme zitterte leicht, als sie in Richtung des Kühlraums nickte.
»Ja. Wir haben ihn neben Ruben gelegt. Aber wir müssen sie rasch aufs Festland bringen. Und wir müssen Techniker holen, bevor alle Spuren verschwinden.« Martin hörte selbst, wie frustriert er klang.
Börje wiederholte, was er kurz zuvor zu Miranda gesagt hatte. »Wir waren gerade unten am Steg. Es ist sehr anstrengend,
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