Schneetreiben
Nacht!«
Bevor sie etwas erwidern konnte, warf er die Tür zu und schlug zum
Abschied mit der Hand aufs Dach.
Heike hupte, dann wendete sie den Wagen – und versank in einer
schlammigen Pfütze am Wegesrand. Die Hinterräder drehten durch, und eine Weile
sah es hoffnungslos aus, doch dann befreite sich der Wagen von allein und sauste
auf der Straße davon.
Hambrock kämpfte sich hinauf zum Hof. Immer wieder trat er in eine
Pfütze oder geriet auf dem schlammigen Grund ins Rutschen, bevor er schließlich
humpelnd und völlig außer Atem die Gebäude erreichte.
In der Scheune bellte der Hund, doch offenbar war er eingesperrt,
denn er kam nicht zu ihm heraus. Ingeborg saß hinter der Terrassentür am
Küchentisch und löste ein Kreuzworträtsel. Sie trug einen Morgenmantel und
hatte ihre Lesebrille aufgesetzt. Hambrock klopfte an die Scheibe, worauf
Ingeborg erschrocken aufsah und dann erleichtert mit den Lippen seinen Namen
formte. Sie sprang auf und öffnete die Tür. Der Wind blies Sprühwasser ins
Innere.
»Bernhard! Ich habe gar nicht mehr mit dir gerechnet.«
»Tut mir leid, ich wollte viel früher kommen, aber dann ist einfach
zu viel dazwischengekommen.«
»Du lieber Himmel, komm erst einmal ins Trockene … nein,
nicht hier durch! Ich habe heute erst geputzt! Geh bitte außenrum durch die
alte Stalltür.«
Kurz darauf nahm sie ihn in der Waschküche in Empfang.
»Ich hatte bereits die Sorge, dass ihr alle schon in den Betten
liegt«, sagte er. »Ich komme doch nicht zu spät?«
»Ach was, nein! Klara ist auch noch auf. Nur die beiden Kleinen
schlafen schon. Ich freue mich, dass du überhaupt gekommen bist.«
Als sie sich dort am Wäschetrockner gegenüberstanden, wurde Hambrock
plötzlich bewusst, was für einen Eindruck er machen musste.
Er stieß ein leicht gequältes Lachen aus. »Mein Gott, ich stehe hier
wie ein begossener Pudel. Ich wünschte, ich könnte dir einen besseren Anblick
bieten.«
Zu seinem Unglück begann Ingeborg zu kichern.
»Du siehst wirklich … nass aus«, sagte sie. »Aber das ist kein
Problem. Ich kann dir einen alten Jogginganzug von Wolfgang geben, der müsste
dir passen. Na ja, vielleicht ist er ein bisschen eng, aber es wird schon
gehen.«
Sie zog einen marineblauen Jogginganzug aus einem Wäscheschrank
hervor.
»Zieh erst einmal die nassen Sachen aus.«
Hambrock pellte sich aus seinem Mantel und warf ihn über einen
Stuhl. Bevor er das Hemd öffnete, zögerte er.
Ingeborg reichte ihm die trockenen Sachen und wartete lächelnd.
Eine Pause entstand. Hambrock schämte sich für seinen Körper. Er
wollte sich keinesfalls vor ihr ausziehen, sie sollte ihn anders in Erinnerung
behalten.
Ingeborg begriff. »Oh.« Ihre Wangen bekamen einen rosafarbenen
Schimmer, bevor sie aus der Waschküche eilte.
»Ich mach uns mal Kaffee!« Damit war sie verschwunden.
Später saßen Hambrock und Ingeborg im Wohnzimmer auf
gegenüberstehenden Sofas, beide in Wolldecken gehüllt und mit Kaffeetassen in
der Hand. Hambrock fühlte sich wieder wohl.
Er brauchte keinerlei schlechtes Gewissen gegenüber Elli zu haben,
sagte er sich. Kein Treffen konnte einem Rendezvous weniger ähnlich sein als
dieses. Wer einer Frau den Hof machen wollte, würde wohl kaum im Jogginganzug
des Exmannes auf ihrem Sofa sitzen und über Vergewaltigung und Mord reden. Doch
genau das tat er. Also konnte ihm keiner einen Vorwurf machen.
Und trotzdem. Irgendwie fühlte es sich falsch an, hier zu sitzen.
Er verscheuchte diese Gedanken und konzentrierte sich auf Ingeborg.
Sie sprach über Klara und über die Veränderungen, die das Verbrechen bewirkt
hatte. Die Zurückgezogenheit, die emotionale Kälte, das vorzeitige
Erwachsenwerden.
»Aber manchmal«, sagte sie mit einem traurigen Lächeln, »da ist sie
wie früher. Laut und fröhlich und gewitzt! Sie war ziemlich frech, musst du
wissen. Und sie hatte Humor. Sie war … völlig unbeschwert.« Ingeborg schüttelte
kräftig den Kopf, als wollte sie damit die Tränen verscheuchen. »Wenn sie so
ist, dann ist sie das Mädchen, das ich hätte, wenn Martin nicht gewesen wäre.«
Sie stieß ein ersticktes Lachen aus. »Sie verdreht den Jungen den Kopf.«
Ein warmes Gefühl breitete sich in Hambrock aus. Er sah ihr gern
beim Reden zu, und er war ihr dankbar, dass sie ihre Trauer nicht vor ihm
versteckte.
»Das hat sie von dir«, sagte er.
»Ach, hör auf!« Sie schniefte und lief rot an. »Das stimmt doch gar
nicht.«
»Alle waren hinter dir her, das weißt
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