Schneetreiben
erinnerte sich, was damals war, nachdem Linas
Bruder in seinem Wagen verbrannt war. Lina hatte sich völlig zurückgezogen. Sie
wollte sich von niemandem helfen lassen. Auch Klara hatte sie nicht sehen
wollen. Ihre Eltern waren so in Sorge gewesen, dass am Ende sogar ein
Psychologe hinzugezogen worden war. »Es gibt Sachen, da muss man alleine
durch.« Sie begriff, was ihre Freundin sagen wollte. Deinen Dämonen musst du
dich alleine stellen, wenn du sie besiegen willst.
Sie holte Lina ein. »Ich dachte, wenn ich es nicht selbst beende,
dann wird es niemals zu Ende gehen, verstehst du? Ich musste allein da durch,
weil ich ja auch allein war, als damals …«
»Ja, ich weiß.« Jetzt lächelte Lina. »Trotzdem liegst du falsch.
Aber das macht nichts. Irgendwann wirst du erkennen, dass deine Freunde für
dich da sind.«
Klara war gerührt. Am liebsten hätte sie ihre Freundin in den Arm
genommen, doch sie fürchtete, dass sie dann in Tränen ausbrechen würde. Und das
wollte sie nicht. Wie hatte sie Lina nur verdächtigen können, irgendetwas über
den Mord an Sandra zu wissen?
»Das nächste Mal werde ich zu dir kommen«, sagte sie mit erstickter
Stimme. »Ich werde so etwas nicht noch einmal alleine machen. Versprochen.«
Lina berührte sie vorsichtig am Arm.
»Ich werde da sein«, sagte sie.
Der Strom kehrte den ganzen Tag nicht zurück, und
Räumfahrzeuge tauchten ebenfalls keine auf. Wären da nicht die Bauern gewesen,
die mit Hochdruck in die umliegenden Dörfer ausschwärmten, um Notstromaggregate
für ihr Vieh zu besorgen, hätte man glauben können, Birkenkotten läge plötzlich
auf einem anderen Stern in einer weit entfernten Galaxie. Es gab keine Autos,
keine Flugzeuge, die Windräder drehten sich nicht mehr, und mit Einbruch der
Dunkelheit legte sich eine so undurchdringliche Schwärze über das Land, wie es
sie in dieser Region schon seit
Jahrzehnten nicht mehr gegeben hatte.
Hambrock überquerte mit einer Taschenlampe den dunklen, tief
verschneiten Hof. Seine Hände und Füße waren taub vor Kälte, er fror am ganzen
Leib und sehnte sich nach einem heißen Bad.
Um ihn herum tropfte es. Von den Dachrinnen, den Baumstämmen und
unterhalb der Pflanzenkübel. Bei Temperaturen knapp oberhalb des Gefrierpunktes
begann sich Schmelzwasser zu bilden. Trotzdem würde es wohl noch Tage dauern,
bevor der Schnee verschwunden war.
Er ging in die Scheune und setzte sich in Ingeborgs Polo, steckte
den Schlüssel ins Schloss und stellte das Radio ein. Nach kurzem Suchen hatte
er einen Sender gefunden, der einen Bericht über das Schneechaos brachte.
»… sind viele Orte im
Münsterland nach wie vor ohne Strom und somit ohne Heizung und ohne Licht.
Meteorologen rechnen jedoch für die kommende Nacht mit einer Beruhigung der
Wetterlage. Die Schneefälle werden nachlassen, und Tauwetter wird einsetzen.
Das Sturmtief verlagert seinen Schwerpunkt langsam landeinwärts und schwächt
sich zunehmend ab. Inzwischen haben die großen Stromversorger alle verfügbaren
Kräfte aufgeboten, um die Stromversorgung wiederherzustellen. Wenn das Wetter
mitspielt, sollen im Lauf des Sonntags die meisten Leitungen repariert werden.
Allerdings ist momentan das Ausmaß der Schäden noch nicht bekannt. Hubschrauber
werden ab morgen früh das Katastrophengebiet überfliegen und sich ein genaues
Bild von den beschädigten Starkstrommasten machen. In den betroffenen
Landkreisen haben Polizei und Verwaltung die Bevölkerung aufgerufen, ihre
Wohnungen vorerst nicht zu verlassen. Aufgrund der Wetterverhältnisse gehe
derzeit von den Überland-Stromleitungen akute Lebensgefahr aus.«
Hambrocks Gedanken schweiften ab. Er starrte in die finstere
Scheune, die den Wagen umgab. Die einzige Lichtquelle war das Display des
Autoradios.
Er hoffte, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Guido Gratczek hatte ihn gedrängt, Christoph Ortmann nach Münster
bringen zu lassen und ihn dort in die Mangel zu nehmen. Doch Hambrock hatte
sich dagegen entschieden. Er wollte abwarten.
»Kümmere du dich um einen Durchsuchungsbeschluss für den Hof der
Ortmanns«, hatte er seinem Kollegen gesagt. »Wenn wir das Haus auf den Kopf
stellen, werden wir die grünen Socken finden und sie offiziell als Beweismittel
zur Verfügung haben. Dann nehmen wir auch Christoph Ortmann fest und vernehmen
ihn.«
»Und was passiert in der Zwischenzeit? Er könnte abtauchen, so wie
Tilmann Feth es versucht hat. Oder er lässt die Socken verschwinden.«
»Er weiß
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