Schneetreiben
Braun.
»Nein, jedenfalls nicht direkt. Ich habe die Situation unterschätzt. Sie werden sich als Kriminalbeamter sicher mit Psychosen auskennen und wissen, dass diese in Schüben auftreten. So war es auch bei meiner Schwester. Es gab Tage, an denen sie ganz normal schien und die Erkrankung jedenfalls für Fremde kaum zu bemerken war. Aber es gab auch schreckliche Zeiten, in denen wir sie bewachen mussten, weil der Angstdruck in ihrem Kopf so groß war, dass wir fürchteten, sie würde sich jeden Moment die Pulsadern aufschneiden oder sich sonst etwas antun.« Braun konnte Carla Frombach buchstäblich ansehen, dass Szenen vor ihrem inneren Auge abliefen, die sie nur schwer ertrug. Er hatte durchaus Erfahrungen mit Opfern, denen der Freitod als einzige Lösung erschienen war, um sich von ihrer krankheitsbedingten Angst zu befreien. Die Angehörigen fühlten sich oft völlig hilflos und überfordert, wenn sie mit der Diagnose einer psychotischen Störung konfrontiert wurden, die oft unvermittelt wie ein Krebsgeschwür in ein Leben trat. Dies war so beängstigend, weil die Krankheit weder greifbar noch begreifbar für die Angehörigen war, die mit ansehen mussten, dass ein von ihnen geliebter Mensch ineine andere Realität abdriftete, in die ihm niemand folgen konnte.
»Gestern war es aber nicht so, dass Sie Ihre Schwester als akut gefährdet betrachtet haben, wenn ich Sie richtig verstehe?«
»Nein. Ich hätte sie niemals allein nach Lübeck fahren lassen, wenn ich das ernsthaft geglaubt hätte. Ich bin sicher, dass sie irgendetwas furchtbar erschreckt und den Angstschub ausgelöst haben muss.«
Braun zögerte einen Moment, bevor er die nächste Frage an Carla richtete. »Gab es irgendjemanden, der Interesse gehabt haben könnte, Ihrer Schwester etwas anzutun?«
»Absolut niemanden«, sagte Carla Frombach mit Nachdruck. »Meine Schwester war der gütigste und beste Mensch auf der Welt, und es gab sicher niemanden, der ihr den Tod gewünscht hätte.« Wieder traten Carla Frombach Tränen in die Augen, und sie sah Braun ängstlich an. »Sie haben doch gestern selbst gesagt, dass es keinen Hinweis auf einen Raub oder Ähnliches gab.«
»Ja, das ist richtig«, bestätigte Braun. »Es gehört allerdings berufsbedingt zu meiner Pflicht, alle Möglichkeiten für das Geschehen in Betracht zu ziehen.«
Carla nickte nur stumm und wartete ab, bis Braun nach einer kurzen Pause weitersprach.
»Wie machte sich die Erkrankung Ihrer Schwester äußerlich bemerkbar? Ich frage das deshalb, weil sich gestern für uns keine tragfähigen Hinweise darauf ergeben haben, dass Ihre Schwester sich etwas angetan haben könnte. Sie war perfekt zurechtgemacht.«
Carla Frombach zog ihren Rollkragen mit der rechten Hand zusammen, als würde sie frieren.
»Sie hat sich immer gut gekleidet und sehr auf ihr Äußeres geachtet, wenn sie aus dem Haus ging. Es war sogar so, dass sie in Zeiten, in denen die Erkrankung besonders stark ausgeprägt war, besonders viel Wert darauf legte, sich äußerlich nichts anmerken zu lassen. Sich zu schminken und zu frisieren war für sie fast so eine Art Ritual, mit dem sie versucht hat, ein Stück Kontrolle über sich selbst und über ihr Leben zu erhalten. So hat es uns jedenfalls ihr Arzt erklärt. Es war wichtig für sie.«
»Wer profitiert wirtschaftlich vom Tod Ihrer Schwester?«
»Ich, im Wesentlichen«, räumte Carla Frombach ganz selbstverständlich ein. »Wir haben beide keine Kinder. Das Vermögen, das wir besitzen, hat unser Vater erwirtschaftet. Wir haben lange bevor ich geheiratet habe ein gemeinsames Testament abgefasst, das uns wechselseitig zu Alleinerben macht. Mein Mann«, Carla verstummte kurz und lächelte ihn an, während sie seine Hand ergriff, »… mein Mann ist wirtschaftlich gänzlich unabhängig. Was mich betrifft, habe ich natürlich immer mal eine Änderung dahingehend machen wollen, dass auch er bedacht wird, aber er sagte immer, das habe Zeit und eile nicht.« Dr. Teubert drückte die Hand seiner Frau, und sein Lächeln wirkte fast ein bisschen verlegen. »Für unseren ältesten Angestellten, Johannes Hansen, der seit Jahrzehnten bei uns auf dem Hof arbeitet, gibt es dann noch ein Vermächtnis von 80 000,– Euro. Er ist aber über jeden Zweifel erhaben, und ich weiß nicht einmal, ob er von diesem Vermächtnis überhaupt weiß.«
»Vor wem oder was hatte Ihre Schwester Angst?«, schaltete sich Bendt ein.
Carla tat einen tiefen Seufzer. »Das ist eine lange
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