Schneetreiben
stellte er fest, während er den Boden abtastete. »Bist du sicher, dass du sie nicht irgendwo anders hingelegt hast?«, fragte er und hatte es kaum ausgesprochen, als er die Gerte in die Höhe streckte und sich aufrichtete. »Na, sie ist offenbar von der Bank und in die Fuge an der Stufe des Podests gerutscht.«
Carla nahm die Reitgerte entgegen. »Entschuldige, Johannes, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, manchmal sehe ich auch schon Gespenster.«
Johannes strich Carla über den Arm, ging dann zu dem Pferd hinüber und band es ab. »Glaub mir, Carla, du wirst nicht verrückt. Du hast einfach viel zu viel durchgemacht in letzter Zeit und bist total überreizt. Außerdem siehst dukeine Dinge, die nicht da sind, so wie Hanna sie sah. Alles, was dich ängstigt, ist real, Carla, vergiss das nicht.« Er legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie freundschaftlich an sich. »Lass uns Da Vinci in den Stall bringen und nach Hause gehen.«
Carla nickte, und sie schwiegen, während sie den Wallach gemeinsam in den Stall führten und das Zaumzeug ablegten.
»Ich bin schrecklich albern«, sagte Carla, als sie das Pferd gefüttert hatten und die Box verriegelten.
»Du solltest dir vielleicht von Konrad etwas zur Beruhigung verschreiben lassen«, schlug Hansen vor. »Damit du wieder ins Gleichgewicht zurückfindest. Ich bringe dich und Smilla zum Haus, bevor ich fahre. Ich muss mir noch einmal ihre Wunde ansehen.«
»Danke, Johannes.«
»Auch das noch!« Hansen blieb, kaum dass er die Tür zur Sattelkammer aufgestoßen hatte, abrupt stehen. »Smilla hat sich schon wieder ihren Verband abgerissen.«
Er ging in die Hocke zu der Hündin, die sich ihm zu Füßen sofort ergeben auf den Rücken legte, um sich kraulen zu lassen. »Ich habe dir doch gesagt, Smilla, dass du das nicht machen darfst«, meinte er vorwurfsvoll. Hansen deutete auf die Verletzung, und auch Carla erkannte sofort, dass die Wunde übel aussah.
»Kannst du mir bitte mal den Verbandskasten geben? Er liegt nebenan auf dem Tisch«, bat er Carla, die sich beeilte, den Koffer zu holen, um dann neben den beiden niederzuknien und den Hund zu streicheln, während Hansen eine neue Mullbinde auspackte.
Smilla atmete schwer. Seit Tagen suchte sie sich schon imHaus den Platz zum Ruhen aus, der die größtmögliche Körpernähe zu Carla gewährleistete.
»Das sieht wirklich nicht gut aus, Carla«, stellte Hansen fest. »Ich glaube, Smilla hat Fieber. Ich habe heute Nachmittag schon einmal mit Dr. Scheuer telefoniert, nachdem ich es beim Verbandswechsel festgestellt hatte. Wir hatten eigentlich vereinbart, dass wir sie morgen früh noch mal zu ihm rüberfahren, ich fürchte aber, wir können nicht bis morgen warten.«
Er griff in die Tasche seiner Jacke, wählte die Nummer des Tierarztes und schilderte ihm Smillas Zustand. Kurz darauf beendete er das Telefonat.
»Dr. Scheuer hat angeboten, ich könnte jetzt gleich mit ihr vorbeikommen«, erklärte Hansen. »Er möchte sich die Wunde heute noch ansehen und Smilla ein anderes Antibiotikum spritzen. Ich lege ihr jetzt nur einen neuen Verband an, damit kein Schmutz in die Wunde gerät, und bringe sie dann hin.« Obwohl Hansen beim Bandagieren der Wunde ausgesprochen vorsichtig zu Werke ging, zuckte Smilla mehrfach zurück und winselte.
»Ich kann sie fahren, Johannes«, schlug Carla vor. »Du hast Feierabend.«
»Das lässt du schön bleiben«, sagte der Stallmeister bestimmt. »Ich bring dich ins Haus, und du ruhst dich aus. Ich glaube, es wird das Beste sein, wenn ich Smilla heute Abend mit zu mir nach Hause nehme. Sie kann ja kaum laufen, und du kannst sie nicht tragen, wenn sie mal muss. Wer weiß, wann Konrad aus Hamburg zurück sein wird. Außerdem hat er im Moment auch andere Sorgen, als die Nacht über bei Smilla zu wachen.«
Hansen schloss den Koffer und reichte ihn Carla. Sie protestiertenicht, weil es ihr tatsächlich die beste Lösung schien. Sie erwähnte lieber gar nicht, dass Konrad bereits angerufen und ihr gesagt hatte, dass er über Nacht in Hamburg bleiben müsse. Er war am Nachmittag dorthin gefahren, um einen Rechtsanwalt aufzusuchen und mit ihm den Praxisfall zu erörtern.
»Morgen früh hast du deine Smilla wieder«, versprach Hansen. »Mach dir keine Sorgen.« Obwohl ihr Stallmeister zuversichtlich klang, wusste Carla, dass er in Wahrheit tief besorgt war.
Beide standen auf. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde, Johannes«, gestand Carla.
»Ich auch nicht«, gab
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